Zum Buch:
Musik, so die zentrale These in dem Buch Echo der Zeit des Kulturhistorikers und Kritikers Jeremy Eichler, sei stärker noch als andere Kunstformen in der Lage, „… der Zukunft einen außergewöhnlichen Zugang zur Vergangenheit zu bieten“. Demzufolge besitzt Musik „eine tiefgreifende Ähnlichkeit mit der Erinnerung als solcher.“ Anhand von vier Komponisten, in deren Lebenspanne sich zwei Weltkriege und der Holocaust ereigneten, zeigt er, wie sich deren Erfahrungen in jeweils einem Musikstück niederschlugen. Eichler stellt Richard Strauss’ Metamorphosen, Arnold Schönbergs A survivor from Warshaw, Benjamin Brittens War Requiem und Dimitri Schostakowitschs Babi Jar-Symphonie ins Zentrum seiner Überlegungen.
Richard Strauss verdankte seine herausgehobene Stellung im Musikleben nach 1933 auch dem Umstand, dass er keinerlei Berührungsängste mit den nationalsozialistischen Machthabern hatte und geflissentlich alles ausblendete, was sein Schaffen hätte stören können. Seine Opern sind ohne die Libretti der österreichisch-jüdischen Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal und Stefan Zweig nicht zu denken. Dass Zweig das Exil der weiteren Zusammenarbeit vorzog, stieß bei Strauss auf Unverständnis. Nach der Zerstörung Münchens durch die Alliierten Bomben zog sich der Komponist erschüttert aufs Land zurück. Metamorphosen, sein 1945 entstandenes Werk für Streicher, wird gemeinhin als ein Abgesang auf seine Welt gesehen.
Arnold Schönberg, radikaler Erfinder der Zwölftonmusik, der als Jude vor den Nazis nach Amerika flüchtete, hat mit dem etwa siebenminütigen Orchester-, Chor-, Gesangs- und Sprechstück Survivor from Warsaw zwei Jahre nach Kriegsende das erste Musikstück geschrieben, das den Holocaust thematisiert. Freilich entbrannte bald nach der Uraufführung 1948 zugleich eine heftige Diskussion, inwieweit es statthaft sei, den Schrecken des Holocaust ungeschminkt auf eine Bühne zu bringen: „Sollte Völkermord wirklich der Gegenstand für abendliches Entertainment in der Carnegie Hall sein?“
Benjamin Britten – nach dem Zweiten Weltkrieg der wohl bekannteste Komponist in Großbritannien – ging als Homosexueller und radikaler Pazifist aus Angst vor Gefängnis bzw. Einberufung 1939 in die USA, kehrte aber schon 1942 wieder zurück. Im Juli 1945 gab er zusammen mit Yehudi Menuhin zwei Konzerte für Displaced Persons in Buchenwald. Diese Erfahrung und die Erinnerung an die barbarische Zerstörung der Kathedrale von Coventry durch deutsche Bomber im Jahr 1940 erschütterten ihn zutiefst. 1962 wurde anlässlich der Einweihung des Neubaus der Kathedrale in Coventry sein War Requiem im Gedenken an beide Weltkriege uraufgeführt.
Im Dezember 1962 wurde Dimitri Schostakowitschs 13. Symphonie, Babi Jar, uraufgeführt. Sie war wie viele seiner Werke unter großer Unsicherheit wegen der ständig drohenden Repressionen, denen der Komponist ausgesetzt war, entstanden. Anstoß dazu war das im September 1961 in der sowjetischen Zeitung Literaturnaja gaseta erschienene Gedicht Babi Jar von Jewgeni Jewtuschenko, das den Antisemitismus in der Sowjetunion thematisierte und die Weigerung offizieller Stellen anprangerte, ein Denkmal für die Opfer zu errichten, denn in der Nachkriegs-Sowjetunion wurde einzig das Leid der sowjetischen Bevölkerung anerkannt.
Diese knappen Bemerkungen sind nur ein schmaler Ausschnitt aus der umfassenden Vielfalt des Buches. Eichler bettet die jeweiligen Kompositionen in die Lebensgeschichte der Komponisten ein, geht auf den politischen und gesellschaftlichen Hintergrund ein und blickt auf die Rezeptionsgeschichte der Werke. Der Horizont des Buchs ist weit gespannt. Es setzt mit Moses Mendelssohn ein und endet in der Gegenwart. Eichler plädiert dafür, das Hören von Musik nicht dadurch einzuengen, dass wir unsere heutigen Erfahrungen und Kenntnisse davor setzen. Anstelle eines solchen Backshadowing plädiert er für ein „Deep Listening“, d.h. für „ein Zuhören im Wissen, dass die Musik ein Echo der Zeit darstellt“. Eichler erzählt detail- und faktenreich, lebendig und fesselnd, und das Wunderbare an der Lektüre ist, dass man weder musiktheoretisch bewandert sein oder Noten lesen können muss.
Ruth Roebke, Frankfurt a.M.