Zum Buch:
Ulrike Almut Sandigs neuer Roman beginnt mit Ruths und Viktors Kindheit in der ostdeutschen Provinz der achtziger Jahre. Ihnen ist der Anblick russischer Soldaten ebenso vertraut die der der Kohlebagger. Die beiden sind unzertrennlich und driften nur langsam immer weiter auseinander. Missbrauch ist das zentrale Thema dieses Romans, das doch über lange Zeit hinweg für die Leserin immer nur eine beunruhigende Vermutung bleibt. In Szenen einer im Groben glücklichen Kindheit werden nur allmählich beunruhigende Schatten spürbar. Sandig überträgt meisterlich die Überforderung und Ratlosigkeit der Kinder in die Narration, die den Impuls des Zurückschrecken- und Ausweichen-Wollens nachvollzieht. Viktor und Ruth flüchten sich beide in unterschiedliche Beschäftigungen. Was ihm der Sport ist, ist ihr die Musik. Aber ihr Rückzug in sich selbst entfernt sie auch voneinander, bis sie sich im Jugendalter aus den Augen verlieren. An diesem Punkt wechselt die Erzählperspektive von Ruth zu Viktor. Er erzählt, wie er nach Südfrankreich geht, um dort als Au-Pair zu arbeiten. Dort entscheidet sich für ihn, wie die Erfahrungen seiner Kindheit – die der Gewalt und die der Freundschaft – sein Erwachsenenleben prägen werden. Über Ruths Entwicklung erfahren wir deutlich weniger, die Angewohnheit, sich in Andeutungen und Unausgesprochenem zu verlieren, bleibt ihr bis ins Erwachsenenalter erhalten.
Ulrike Almut Sandig schreibt in einer fast weichen Sprache. Anders als in ihrer Lyrik verzichtet sie hier auf kunstvolle Wortspielereien und poetische Verfremdungen. Ihr ganzes literarisches Augenmerk liegt auf der Entfaltung eindrücklicher Szenen, die lange im Gedächtnis bleiben. Besonders die Beschreibung aus Kindersicht gelingt ihr auf berührende Weise. Sandig verleiht dem Roman eine ob des Themas verblüffende Leichtigkeit. Das macht diesen Roman schnell und gut lesbar, sorgt aber zugleich dafür, dass man ihn kaum beiseitelegen kann und mit Sicherheit mit Gewinn wieder lesen wird.
Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt