Zum Buch:
Wer war Hermann Flade? Einst weltweit bekannt, ist er längst in Vergessenheit geraten. Nun aber hat es die Autorin Karin König unternommen, uns sein dramatisches Schicksal in Erinnerung zu rufen. Es steht für ein düsteres Kapitel in der Geschichte der jungen DDR. Flade, ein aus dem Erzgebirge stammender Oberschüler aus katholischem Milieu, protestierte gegen die ersten Wahlen zur Volkskammer am 15. Oktober 1950, wurde verhaftet und ein Jahr später in einem Schauprozess zum Tode verurteilt. Das Urteil gegen den erst 18-Jährigen erregte Entsetzen, in der DDR, wo in Flugblättern, Briefen und Mauersprüchen dagegen protestiert wurde, und außerhalb der DDR, wo das Todesurteil eine weltweite Kampagne auslöste, selbst US-Präsident Truman setzte sich für Flade ein. Tatsächlich wurde das Todesurteil schließlich aufgehoben und in eine langjährige Haftstrafe umgewandelt. Damit begann für den jungen Mann ein langjähriger Leidensweg durch die ob ihrer Haftbedingungen und Methoden berüchtigten DDR-Zuchthäuser Bautzen, Waldheim und Torgau. Er überlebte Einzelhaft, Prügel, Nahrungsentzug, Schikanen und grausame Demütigungen als „Volksfeind“. 1960 endlich frei, setzte sich Flade in den Westen ab.
Die Biographie von Hermann Flade, die Karin König vorgelegt hat, ist hervorragend recherchiert und akribisch dokumentiert. Einfühlsam erzählt die Autorin diese Geschichte der Selbstbehauptung und des Widerstands eines Einzelnen gegen das von der diktatorischen Einheitspartei vertretene Verständnis von Demokratie. Denn das Regime hatte den Wahlakt zur Volkskammer zur bloßen Stimmzettelabgabe degradiert – zur Abstimmung stand einzig die Einheitsliste der „Nationalen Front“; die Sitzverteilung in der Volkskammer war bereits festgelegt, einzelne Abgeordnete konnten nicht gewählt werden. Gegen diese Schein-Wahlen protestierte der junge Flade, indem er seine mit einem Schülerdruckkasten unbeholfen gefertigten 186 Zettel an Mauern, Hauswände und Laternenmasten der Stadt Olberhau klebte, wo er mit seiner Mutter und dem Stiefvater lebte. Wahlbetrug, stand auf diesen Mini-Flugblättern, oder auch: Die Gans latscht wie Pieck, schnattert wie Grotewohl und wird gerupft wie das deutsche Volk – Anspielungen auf die Leibesfülle von DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck, die großen Worte von Ministerpräsident Otto Grotewohl bei seinen Reden und die Reparationsleistungen, die die DDR-Bevölkerung zugunsten der Sowjetunion erbringen musste. Den zettelklebenden Schüler überraschte in der Nacht vom 14. auf den 15. Oktober eine Zivilstreife der Volkspolizei. Flade entkam, weil er sich bei der Festnahme mit seinem Taschenmesser wehrte und dabei einen der Polizisten durch zwei Stiche verletzte – leicht! Stunden später, eine Großfahndung nach ihm war angelaufen, wurde er verhaftet. Zum Tode – und zwar kostenpflichtig! – verurteilt wurde er, Zitat, wegen „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen in Tateinheit mit Betreibens militaristischer Propaganda, versuchten Mordes und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“.
Hermann Flade handelte als Einzelner. Aber er war nicht der Einzige, der opponierte. Karin Königs Buch ist zu entnehmen, dass es zahlreiche Jugendliche gab, die allein oder in Grüppchen gegen das DDR-Regime protestierten. Etliche konnten sich in den Westen absetzen, viele wurden gefasst, zu langen Zuchthausstrafen verurteilt oder, im schlimmsten Fall, in der DDR gehängt bzw., wenn in den ersten DDR-Jahren noch ein Sowjet-Militärtribunal das Urteil sprach, in Moskau erschossen.
Obschon schwerst traumatisiert, gelang es Flade gleichwohl, sich im Westen ein – wenngleich fragiles – Leben aufzubauen. Er studierte Politische Philosophie, wurde promoviert, heiratete und hatte eine Tochter. Häufig trat er öffentlich als erbitterter Kritiker des DDR-Systems auf. Er starb früh, mit 48 Jahren. Unklar ist, ob die Todesursache ein Herzinfarkt war oder ob er Selbstmord beging.
Karin König erzählt flüssig, sie bietet auch Einblicke in die zuweilen widersprüchlichen Gedanken und Gefühle, die sie bei ihrer Annäherung an die Person Flades bewegten. Diese emotionale Herangehensweise erleichtert die Lektüre dieser durch die umfangreichen Fußnoten der Autorin bisweilen etwas sperrigen Biografie, die auch als ein Stück Zeitgeschichte der frühen DDR gelten kann.
Michaela Wunderle, Frankfurt