Zum Buch:
2018. Aube, Mitte zwanzig, unverheiratet, als Folge einer flüchtigen Beziehung schwanger, lebt mit ihrer Mutter Khadija in Oran und betreibt einen Friseursalon. Einerseits. Andererseits: Aube ist ihr zweiter Name, ihre Mutter ist ihre zweite Mutter, und Aube lebt ein zweites Leben. An das erste erinnern die große Narbe, die sich über ihren Hals zieht und die sie ihr „Grinsen“ nennt, die Kanüle, durch die sie atmet, und die durchschnittenen Stimmbänder, die sie fast völlig stumm machen, jedenfalls nach außen. Ihre innere Sprache, wie sie es nennt, dagegen ist keineswegs verstummt, und mit ihr redet sie mit dem ungeborenen Kind, von dem sie spürt, dass es ein Mädchen ist, um ihm zu erklären, warum sie es abtreiben wird. Sie nennt es Huri, wie die Jungfrauen, die im Paradies auf Männer warten, und will es zurückschicken ins Paradies, um ihm ein Schicksal wie das ihre zu ersparen. Und so erzählt sie dem kleinen Wesen in ihr ihre Geschichte, die Geschichte eines der großen Massaker im algerischen Bürgerkrieg 1991-2002, als Islamisten abgelegene Dörfer in den Bergen überfielen und die Bewohner abschlachteten, aber auch die Geschichte des großen Schweigens über diesen Krieg, das die Erinnerung auslöschen und die Opfer vergessen machen will, und die Geschichten eines Alltags, der von diesem großen Tabu geprägt ist. Im Mittelpunkt steht dabei das Leid der Frauen, deren Rechte durch fanatische Imame und ein gnadenloses, religiös verbrämtes Patriarchat bis in die kleinsten Bereiche hinein verweigert werden.
Daoud gibt ihr und den anderen Protagonist:innen in diesem Buch die Stimme, die das algerische Gesetz – das dem Buch vorangestellt ist – unter Strafe stellt, und lässt sie erzählen, in einem unaufhörlichen Strom immer neuer Geschichten, die wieder andere nach sich ziehen. Aubes Verletzung gibt dem Taxifahrer und Buchhändler Aïssa, der nie schreiben gelernt hat, den Beweis, dass die Gräuel, die er selbst erlebt hat, wahr und nicht eingebildet sind, wie es ihn alle glauben machen wollen, und ermöglicht ihm, das, was er nicht schriftlich festhalten kann, mündlich zu überliefern. Und auch Hamra, der nicht mal Name und Gesicht geblieben sind, findet durch Aubes Wunde die Sprache für ihre eigene Geschichte wieder.
Daoud gelingt es in diesem Buch, gerade durch die Verletzungen und Einschränkungen seiner Protagonisten das, was das Gesetz verbietet – die Dokumentation der historischen Ereignisse – im Wortsinne zur Sprache zu bringen: sinnlich, poetisch, wütend, schmerzhaft, ausschweifend und immer mitreißend. Was er erzählt, ist oft grauenhaft und entsetzlich, aber wie er es tut, verleiht all dem eine Poesie, die trotz allem Hoffnung ermöglicht.
Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.