Zum Buch:
Ein Buch über Yoga? Who cares? Alle! Alle sollten sich dafür interessieren, die sich für gute, mitreißende Literatur begeistern, denn das ist dieses Buch von Emanuel Carrère zuallererst: Ein unglaublich gut geschriebener Roman. Emmanuel Carrère beherrscht die Kunst des Erzählens wie kaum ein anderer. Nach der Lektüre bleibt man atemlos zurück angesichts des schrecklich schönen Lebens, das der Autor vor uns ausbreitet. Es ist sein Leben, Yoga ist dabei nur ein Aspekt, aber ein zentraler, und mit Yoga setzt der Roman auch ein: Carrère reist ohne Handy, ohne Buch, ohne jegliche Ablenkung in ein Meditationsseminar am Rande von Paris, bezieht seine Zelle. Er meditiert, er beobachtet seine Atmung (er kann besser ein- als ausatmen), er beobachtet seine Mitstreiter, er beschreibt seine Spaziergänge im Wald, die Entdeckung eines in die matschige Erde gesunkenen hässlichen Plastikgartenstuhls: „Dieser alte, wackelige, modrige Plastikstuhl, verstand ich, würde für die Dauer des Retreats mein Platz sein.“
Aber was bedeutet Yoga eigentlich? Wörtlich übersetzt heißt es so viel wie „unter ein Joch spannen“, die gegensätzlichen Kräfte des Lebens, den Körper und die Seele, anschirren. Während Carrère sich diesem Konzept zu unterstellen sucht und zugleich den Retreat zur Recherche für ein heiteres, kleines Buch über Yoga nutzen möchte, bricht das Leben in all seiner Brutalität über ihn ein. Carrère wird aus dem Retreat gerissen: Ein Freund stirbt beim Anschlag auf Charlie Hebdo – und das ist nur der Anfang: auf den Mord des Freundes folgt das Scheitern der Ehe und die Einweisung in die Psychiatrie. Das Leben stellt uns Menschen mitunter härter auf die Probe, als wir eigentlich ertragen können, und schnell wird klar, dass hier auch die Lehre des Yoga hinterfragt wird. „Vergleicht man das in diesen Tagen in Paris vergossene Blut und die Tränen … mit unserer Enklave von Meditierenden, die damit beschäftigt waren, in ihren Nasenlöchern ein- und auszugehen und schweigend ihr Bulgur mit Gomasio zu kauen, dann ist die eine Erfahrung einfach wahrer als die andere. Alles, was wirklich ist, ist per Definition wahr, aber manche Wahrnehmungen der Wirklichkeit haben einen höheren Wahrheitsgehalt als andere, und das sind nicht die angenehmsten. Ich glaube zum Beispiel, dass der Wahrheitsgehalt bei Dostojewski höher ist als beim Dalai Lama. Kurz, mit meinem heiteren, feinsinnigen Büchlein über Yoga war ich angeschmiert.“
Carrère ist ein vom Leben Geschlagener, aber er bleibt zugleich ein vom Leben Begeisterter, ein Suchender: Er ist offen für das Leben, er ist verletzlich, er ist ein Mensch, der Menschen begegnen möchte, darunter auch flüchtenden Jugendlichen auf der Insel Leros, für die er ein Schreibseminar anbietet. Carrères Buch ist berührend, erhellend, tröstend, und damit erschafft er genau das, was Dichtung für ihn selbst geworden ist, als er in der Psychiatrie weder ein- noch aus wusste: Gedichte sind seine Trostspender gewesen, vielleicht nicht mehr. Aber ganz sicher nicht weniger. Und Yoga? Wer für autobiographisches Schreiben oder Yoga bisher nichts übrig hatte, wird hier eines Besseren belehrt.
Ines Lauffer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt