Zum Buch:
Das Pensum hatte ein Ablaufdatum: Vierundvierzig Filme in sechzehn Jahren. Das sind 2,75 Filme jedes Jahr. Allein zwischen 1976 und 1978 stellt er neun Filme fertig. Und die nächsten 2,75 sind schon geplant, die Drehbücher geschrieben, sie warten nur darauf, gedreht und geschnitten zu werden. Über zehn Filmideen liegen in seiner Schublade. Doch in diesem Jahr, im Jahr 1982, bleibt es bei der filmischen Adaption von Jean Genets Roman Querelle. Rainer Werner Fassbinder stirbt mit 39 Jahren, im Schlaf nach dem Rausch, wie sein Leben eben verlief, und der Film wird ohne ihn fertiggestellt. Rainer Werner Fassbinder: RWF – ein Akronym des radikalen Kinos, der unbändigen, oft selbstzerstörerische Energie, der rastlosen Kreativität.
Diesem RWF hat sich der britische Kulturessayist Ian Penman in seinem bemerkenswerten Buch Fassbinder. Tausende von Spiegeln gewidmet. Penman, der durch seine Texte für die Musikzeitschrift New Musical Express zu einem der profiliertesten Musikkritiker Großbritanniens wurde, beleuchtet darin Fassbinders komplexes Leben und Werk. Doch handelt es sich dabei weniger um eine Biographie; Penman reflektiert vielmehr entlang von Biographismen die größeren Zusammenhänge. In 450 durchnummerierten, mal mäandernden, mal geradlinigen Gedanken spiegelt Penman vieles von dem, was Fassbinders Leben ausmacht: Seine Homosexualität in der westdeutschen Nachkriegszeit. Sein schmuddeliges Äußeres und tyrannisches Auftreten, seine Sanftheit, seine Leere, seine „wahnwitzige Produktivität“, die zu seiner Aufputsch- und Schlafmittelabhängigkeit beiträgt. Da ist Fassbinder, der Liebhaber, der betrügt und erpresst. Da ist Fassbinder, der Autodidakt, der Douglas Sirk und Jean Genet verehrt und nie eine Deadline verpasst. Man liest ein irgendwie kohärentes Leben, das an vielen Stellen zerbrochen ist: „Im Leben ist nichts hübsch und ordentlich; aber das Werk ist vorbildlich.“
Um dieses Werk zu erschließen, lässt Penman Lacan, Adorno, Bataille und viele andere auftreten. Ein assoziatives Spiel, das immer wieder filmhistorische Einordnungen vornimmt und ein Interpretationsangebot bereitstellt. Penman geht dabei immer wieder weit in die Filme hinein, analysiert ihre stilistischen Merkmale und ihren Einfluss auf nachfolgende Generationen von FilmemacherInnen.
Nach Theorie und Filmhistorie ist es Penmans Aufwachsen selbst, das Anlass zur Reflexion gibt. Dann rückt das Kino als Spiegel der Selbsterkenntnis ins Zentrum. Penman erzählt, wie nachhaltig die Filme RWFs das Weltbild eines britischen Teenagers in den 1970er Jahren geprägt haben. Zu dieser Zeit wurde nicht im eigenen Land, sondern in der BRD nach künstlerischen Lichtblicken gesucht: im Krautrock, bei Joseph Beuys und der Düsseldorfer Schule und eben bei RWF. Aber Penman vernachlässigt die Diagonalen nicht, er verknüpft diese Einblicke eindrücklich mit den gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten der (Prä-) Thatcher-Jahre.
Und das alles ist glänzend geschrieben und von Robin Detje gleichermaßen glänzend übersetzt. Zusammen mit Penmans Gedankenreichtum und dem ständigen Durchdringen seiner subjektiven Eindrücke durch Fassbinders Werk ergibt das eine großartige Lektüre. Hinein ins Spiegelkabinett.
Felix Spangenberg, autorenbuchhandlung marx & co