Zum Buch:
„Ayúdame!“ steht in spanischer Sprache auf dem Zettel, den der oder die Verfasserin unter dem Kragen einer bei eBay ersteigerten Jacke versteckt hat. „Ayúdame – Hilf mir.“
Als Zach Wells den Zettel entdeckt, ist seine eigene Welt bereits aus den Fugen geraten. Zach ist Professor für Paläontologie – und ein zutiefst unglücklicher Mensch, das behauptet er jedenfalls von sich selbst. Die meiste Zeit über langweilt ihn seine Arbeit, man könnte es auch direkter formulieren: Er hasst sie regelrecht. Hinzu kommt, dass die Ehe mit seiner Frau Meg seit Jahren auf einem Nebengleis verläuft, man respektiert sich zwar, doch Liebe, wenn es denn jemals Liebe gewesen sein sollte, verbindet sie längst nicht mehr. Einziger Lichtblick in Zachs Leben ist seine Tochter Sarah, ein hübsches, aufgewecktes zwölfjähriges Mädchen, das der Niedergeschlagenheit ihres Vaters mit humorvoller Wortgewandtheit zu begegnen versteht, selbst dann noch, wenn sie diesen schon wieder haushoch beim Schachspiel geschlagen hat.
Eines Tages wird durch einen Zufall bei Sarah progressive Demenz diagnostiziert, ein Todesurteil, und für Zach und Meg beginnt eine Zeit tiefster Verzweiflung. Ihre Aufgabe hat bis eben noch darin bestanden, ihr Kind auf das Leben vorzubereiten. Nun sind sie dazu verurteilt, hilflos mitansehen zu müssen, wie dieses Leben mehr und mehr aus ihr entweicht. Überwältigt von Kummer, meint Zach dennoch, stark für seine Tochter sein zu müssen, da sich deren Zustand rapide verschlechtert. Sie scheint sich selbst zu verlieren, steht wankend vor einem Abgrund, der sie hinabzuziehen und zu verschlucken droht. Irgendwann erkennt sie selbst ihre Eltern nicht mehr – auch nicht deren Traurigkeit.
Währenddessen muss sich Zach den Avancen einer Studentin erwehren, sucht bei sich eine Mitschuld am Selbstmord einer Kollegin – und zudem taucht ein weiterer Zettel auf, erneut versteckt in einem gekauften Kleidungsstück mit dem gleichen Absender aus New Mexiko: „Sie lassen uns nicht gehen.“
Kurze Zeit später stürzt Zach in die Küche, aufgeschreckt durch den Schrei seiner Frau, und muss zu seinem Entsetzen mitansehen, wie Sarah zitternd und mit wildem Blick vor ihrer Mutter steht, dabei mit der Hand die Klinge eines scharfen Tranchiermessers umklammert und stark blutet. Sarah starrt Zach flehentlich an, nennt ihn Daniel und fragt ihn voller Furcht, wer diese andere Person sei.
Nur schweren Herzens können sie sich dazu entschließen, ihre Tochter in die Obhut einer geeigneten Einrichtung zu geben, und als die Verzweiflung ihren höchsten Punkt erreicht hat, beschließt Zach, nach New Mexiko zu fahren – und zu helfen.
Percival Everett, Schriftsteller und Professor für englische Literatur, versteht sein Handwerk, er weiß, dass man eine Geschichte auch mit dem Ende beginnen lassen kann.
Seine Figuren als äußerst lebendig zu bezeichnen, wäre absolut untertrieben, denn sie kommen einem vor, als würde man sie schon sehr lange kennen, als teile man ihre Hoffnungen, Ängste und Sorgen genauso wie die tiefe Verzweiflung, die sie umgibt. Und dennoch ist Erschütterung keineswegs ein durchweg dunkles, trauriges Buch, denn zur Lebendigkeit gehören alle Facetten des Lebens , und so gelingt es Everett sogar, seiner Geschichte eine humorvolle Note zu verleihen. Hier ist ein Autor, der für sein Werk bereits eine bemerkenswerte Anzahl an Auszeichnungen erhalten hat und von dem es gewiss bald mehr in deutscher Sprache zu entdecken geben wird.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Löln