Zum Buch:
Am Anfang von Kangal, dem Debütroman von Anna Yeliz Schentke, ist Dileks Schrankhälfte leergeräumt. Ihr Freund Tekin kann in der gemeinsamen Istanbuler Wohnung nur feststellen, dass sie hastig aufgebrochen sein muss. Bald vermutet er: Sie ist geflüchtet, nach Deutschland…
Geflüchtet ist Dilek tatsächlich, und zwar vor der ständigen Angst, denunziert zu werden, denn sie gehört in Istanbul zur Opposition, die die Regierung kritisiert. Dies nicht einmal offen: Unter dem Pseudonym Kangal1210 hat sie online in den Sozialen Medien an einer Protestaktion teilgenommen, bei der Frauen dem türkischen Staatspräsidenten den Rücken zeigen. Dilek ist mit Tekin und einigen anderen Teil eines Freundeskreises, der sich im Zuge der Gezi-Proteste im Jahr 2013 politisiert hat. Sie sind jung, sie sind links, sie frequentieren Bars und Clubs und sie diskutieren viel über Gleichberechtigung und die Anerkennung alternativer Wohn- und Lebensformen, über die Freiheit des Wortes und über eine unabhängige Justiz. Nicht ohne Grund hat sich Dilek mit dem Kangal als Decknamen für eine Hunderasse entschieden, die für ihren stark ausgeprägten Beschützerinstinkt bekannt ist.
Selbst innerhalb der eigenen Familie weiß Dilek nicht, ob sie sicher ist. Eigentlich nämlich gibt es in Deutschland ihre Cousine Ayla, mit der sie sich als Kind gut verstanden hat. Trauen aber kann sie ihr nicht, denn Aylas Familie gilt als konservativ. Sich zu positionieren, etwas preiszugeben von den eigenen politischen Ansichten, kann schnell gefährlich werden für die eigene Freiheit, für die eigene körperliche Unversehrtheit, denn der türkische Staat stellt allen Kollaborateuren weltweit ein besonders perfides Überwachungsmittel zur Verfügung: eine Denunziations-App.
Eindrücklich führt Anna Yeliz Schentkes Roman vor Augen, wie Überwachung und Denunziation in einem autokratischen System in alle Bereiche menschlicher Beziehung vordringen und sie kontaminieren. Dies gelingt ihr durch den geschickten Wechsel verschiedener Perspektiven. In schneller Abfolge kommen die unterschiedlichen Charaktere ihres Romans zu Wort und verunsichern den Leser zunehmend. Welche Perspektive ist die richtige? Welche Haltung der Situation am angemessensten? Was ist überhaupt zu tun in einer solchen Situation? Unterstützt durch den schnörkellosen, präzisen Stil vermittelt der Roman ein bleibendes Gefühl genau der Hilflosigkeit, die die Betroffenen in gewaltvollen Regierungsapparaten erleben.
Damit hat Anna Yeliz Schentke in Zeiten wie diesen, freilich ohne es zu wissen, genau das richtige Buch zur richtigen Zeit vorgelegt. Sie konnte nicht ahnen, wie dringlich sie werden wird, die Forderung nach freier Entfaltung von Person und Geist bar Unterdrückung. Für den Leser eine erhellende Lektüre, die durchweg zu empfehlen ist.
Max Eisenbarth, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt