Zum Buch:
Es sind genau achtundneunzig Wörter, mit denen Shaun Tan, der Großmeister der Graphic Novel, der geniale Zauberer mit Stift, Pinsel und Feder, in seinem neuesten Kunstwerk eine ganze Welt erklärt. Oder sagen wir, eine Philosophie. Auf achtundvierzig Seiten. Mit Bildern, diesmal in Öl, die, jedes einzelne, den Betrachter geradezu ehrfürchtig erstaunen lassen ob solch eines bodenlosen Füllhorns an Phantasie. Wer die Arbeiten von Shaun Tan kennt, der weiß, ich übertreibe keineswegs, wenn ich behaupte, es sind Bilder, die nicht mehr von dieser Welt zu sein scheinen. Und nicht zum ersten Mal muss ich an dieser Stelle sagen, dass ich e einfach nicht kapiere, wo dieser feinfühlige junge Mensch seine Ideen herholt. Ich bin mir sicher, würde man einen Blick in Tans Schubladen werfen dürfen, dort, wo er seine unveröffentlichten Ideen aufbewahrt, man würde sich die Haare raufen, denn woher zum Teufel weiß dieser Kerl so gut über unsere versteckten und vergessenen Sehnsüchte Bescheid? Oder anders gesagt: Es würde einem schlichtweg das Herz aufgehen. Der Mann hat jeden Preis verdient, den er bisher bekommen hat. Tans Bilder und Texte machen wieder empfänglich für Zärtlichkeit, lassen das Statische, das Konservative, das Den-Tag-über-mit-Scheuklappen-durch-die-Gegend-Stolpern vergessen. Er bricht das Eis.
Diesmal sind es zwei Jungs, Brüder, die einen unvergesslichen Sommer erleben. Es geht dabei um Regeln, von denen niemand weiß, wer sie aufgestellt hat, die aber enorm wichtig und nötig zu sein scheinen. Nicht nur, wenn man jung ist und der Sommer vor der Tür steht. Regeln, die der kleinere der Brüder jedes Mal verletzt. Die erste Regel besagt, nie eine rote Socke auf der Wäscheleine hängen zu lassen. Und das dazugehörige Bild, das zeigt, was dann unweigerlich passieren wird, wenn man diese Regel verletzt, verschlägt einem augenblicklich den Atem. Weitere Regeln sind: Nie auf einer Party die letzte Olive essen. Nie die Hintertür über Nacht offen lassen. Nie auf eine Schnecke treten. Und dann sind da auch diese beiden Regeln, die ich persönlich, wenn ich jetzt die dazugehörigen Bilder betrachte, für die „schönsten“ halte: Nie das Passwort vergessen. Und nie den letzten Sommertag verpassen.
Und ganz zum Schluss erkennen die beiden Brüder, dass etwas wichtiger ist als jede Regel: die unverbrüchliche Liebe zueinander.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln