Zum Buch:
Immer morgens, kurz bevor ich aufwache, in dieser Art Halbschlafzeit zwischen den Welten, suche ich mir etwas aus, und wenn es auch nur eine winzige Kleinigkeit ist, was den kommenden Tag zu etwas Besonderem macht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass das jemals anders gewesen wäre. Ich brauche das. Ich denke, da bin ich nicht alleine.
Aber … »Manchmal beginnt der Tag ohne Aussicht auf etwas Schönes«, und das ist der Auftakt zu Shaun Tags neuestem Kunstwerk, in dem ein rothaariges Mädchen in ihrem Zimmer aufwacht und schwarze Blätter von der Decke herabregnen. Erst wenige, zählbare, dann immer mehr und mehr, bis sie schließlich hüfthoch den Raum ausfüllen. Gesenkten Hauptes geht das kleine Mädchen durch die Straßen, während sich die Dunkelheit in Form eines
riesigen, blindäugigen Karpfens herabsenkt.
Es fühlt sich alleingelassen, unverstanden, „zählt“ das Warten, zeichnet Striche – hundertmal, tausendmal – auf den Rücken einer Schnecke, die sich in immer engeren Kreisen bewegt, und verliert sich so in Fragen, wer es denn nun in dieser Welt sein soll und wo es denn in dieser Welt hingehört. Schon scheint der begonnene Tag genau so grau und schwarz und dunkel zu enden, wie er begonnen hat – doch dann, wieder zu Hause, ist er plötzlich da, direkt vor ihm, hell und leuchtend und ruhig wartet er, genau so, wie es sich ihn vorgestellt hat: ein großer roter Baum. Und das Mädchen lächelt.
Alle Geschichten aus der unnachahmlichen Zeichenfeder Shaun Tans berühren den Leser, den Betrachter, in hohem Maße, aber „Der rote Baum“ geht einem ganz besonders nahe. Man fragt sich mitunter, wo dieser junge Mensch die Tiefe her hat, die Lebensweisheit, die in seinen Bildern und Texten ruht. Ich weiß es nicht besser auszudrücken, aber es ist gut, dass es Menschen wie Tan gibt. Sie wissen schon, was ich meine.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln