Zum Buch:
Der Sinologe Richard von Schirach erzählt zwei Geschichten – einmal die von vielen Legenden, Halbwahrheiten und Lügen umrankte Geschichte der deutschen Kernforschung und dann die Geschichte der Entwicklung der Atombombe im 20. Jahrhundert.
Im April 1945 flüchten Mitarbeiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts aus dem ausgebombten Berlin ins württembergische Hechingen und versuchen dort, mit primitiven Mitteln, in einem Bierkeller einen Atomreaktor zu bauen. Als Franzosen und Amerikaner näherrücken, vergraben sie den halbfertigen Reaktor. Der amerikanische Geheimdienst wusste allerdings längst Bescheid über die Bemühungen von Hitlers Physikern, eine Atombombe zu bauen. Sie gruben den Reaktor wenige Stunden später wieder aus. Im Mai 1945 verhafteten die Amerikaner – in der Zone der Franzosen und ohne deren Wissen – nach und nach den ganzen „Uranverein“, d.h. zehn deutsche Physiker, darunter Otto Hahn, Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker. Auf abenteuerlichen Wegen wurden die Physiker nach England gebracht – auf das Landgut Farm Hall in der Nähe von Godmanchester. Dort hörte man sie rund um die Uhr ab. Erst 1993 erschienen die Abhörprotokolle zurückübersetzt auf Deutsch. Seither ist die Geschichte der 6 Monate dauernden Haft bekannt, und Schirach erwähnt sie nur in Kurzfassung.
Der Kern seiner Geschichte ist die Verwicklung der deutschen Spitzenforscher in Kriegsverbrechen und ihr politischer Opportunismus. Deutsche Physiker von Einstein bis Heisenberg waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit führend in der theoretischen Physik. 1939, also noch vor Kriegsbeginn, erhielt Heisenberg das Angebot, in den USA zu forschen. Mit dem Hinweis, „Deutschland braucht mich“, lehnte er ab. Wollte er nicht sehen oder sah er nicht, dass Deutschland bereits seit sechs Jahren eine Diktatur war? Und wofür braucht eine Diktatur solche Wissenschaftler?
Nach Kriegsbeginn stellte sich Ende September 1939 heraus, dass alle namhaften deutschen Kernphysiker dachten wie Heisenberg und sich mit dem Regime gemein machten, obwohl ihre Kollegen jüdischer Herkunft bereits im Exil waren. Heisenberg tat gar nichts, als sein Kollege Max Born bereits 1933 aus Göttingen verjagt wurde. Otto Hahn gab immerhin seine Professur auf, als seine jüdische Mitarbeiterin Lise Meitner entlassen wurde. Hahn gehörte bereits im Ersten Weltkrieg zu einer militärischen Einheit von Gaspionieren und war mitverantwortlich bei der Abfüllung von Phosgen-Granaten bei der IG-Farben. Später gab Hahn zu Protokoll, „dass wir beim Einsatz an der Front keinerlei Skrupel hatten.“
Lise Meitner begriff 1938 als erste Physikerin, was passiert, wenn ein Atomkern gespalten wird: Krypton und Barium – die beiden Spaltprodukte sind leichter als der Atomkern von Uran. Sie schloss daraus, dass sich der „verschwundene“ Teil des Kerns bei der Spaltung – nach Einsteins Formel E=mc2 – in Energie verwandelt. Zusammen mit dem ebenfalls bereits ins Exil vertriebenen Physiker Otto Robert Frisch veröffentlichte sie 1939 diese die Physik revolutionierende Einsicht.
Auf die Idee, diese Energie militärisch zu nutzen, kamen die Physiker im „Uranverein“ um Heisenberg vor der Politik und den Militärs. Seit Dezember 1939 forschten sie an der „Uranmaschine“, wie sie ihren Reaktor nannten. Bis Kriegsende gewannen sie theoretische Erkenntnisse, erzielten aber im Gegensatz zu den Amerikanern keine praktisch, d.h. militärisch brauchbaren Ergebnisse. Zum Teil begaben sie sich auf Holzwege, zum Teil fehlte es ihnen an Geld – im Gegensatz zum amerikanischen „Manhattan Project“, in das ungeheure Summen flossen. Das Buch von Schirach widerlegt die Legende, deutsche Physiker hätten den Bau von Atombomben absichtlich verhindert.
Rudolf Walther, Frankfurt am Main