Zum Buch:
Woran denkt man, wenn man “Sibirien” hört? An ein riesiges Land, an hohe Berge, weite Ebenen, an Dunkelheit und barbarische Kälte, an kurze, heftige Sommer und an all die Straflager und die Verbannten des Zarenreichs und der UDSSR. An Klaviere denkt man sicher nicht …
Die Journalistin Sophy Roberts, seit langem fasziniert von dem Riesenland, seiner Geschichte und seinen Menschen, lernt auf einer ihrer Reisen eine junge mongolische Pianistin kennen. Deren modernes Instrument, mit dem sie in ihrer Jurte auf berückende Weise Bach spielt, hat unter den harten klimatischen Bedingungen gelitten, und so entstand die Idee, nach einem alten Instrument für sie zu suchen, das der Kälte und der Lufttrockenheit bis jetzt standgehalten hat – eines der “vergessenen Klaviere Sibiriens”.
Ihre Suche führt die Autorin und ihre diversen Helfer kreuz und quer durch Sibiriens Weiten. Von Jekatarinenburg im Westen bis auf die Halbinsel Kamschatka im fernsten Osten, von Irkutsk bis Wladiwostok. Es ist nicht nur eine Reise im geographischen Raum, sondern auch eine in der Zeit. Die reicht von Katharina der Großen über die “Lisztomania” im frühen 19. Jahrhundert, mit der das Klavier zu dem Instrument des Adels und des Bürgertums wurde, und die Russische Revolution bis zu Stalins Regime und letztlich hin zum Ende der Perestroika und in die Gegenwart. Es ist eine Reise in die Geschichte Sibiriens, dessen Besiedelung nicht zu denken ist ohne die Millionen von Menschen, die im Laufe der Jahrhunderte dorthin verbannt wurden und die in den Bergwerken, beim Bau der Eisenbahn und Straßen schufteten. Die oft genug, selbst nach Verbüßung ihrer Strafen, nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren konnten – vereinzelt auch nicht wollten.
Neben der großen Masse der Verbannten aus den ärmsten Schichten, die aus fadenscheinigen Gründen nach Sibirien geschickt wurden, kamen unter dem Zarenregime, während und nach der Revolution und verstärkt in den Terrorjahren unter Stalin politische Gegner und Menschen, die man aus opportunen Gründen ausschalten wollte, in die Lager. Sie gehörten häufig dem Adel oder dem Bürgertum an und versuchten, so weit es ihnen möglich war, sich etwas von ihrer Lebensart auch unter widrigen Umständen zu erhalten. Zugleich entstand eine Schicht von Verwaltungsbeamten, Kaufleuten, Technikern, Lehrern, die freiwillig nach Sibirien gekommen waren. Nach und nach entstand, selbst in gänzlich abgelegenen Regionen, kulturelles Leben, in dem Musik, besonders Klaviermusik, eine große Rolle spielte und viele Instrumente ins Land kamen, deren Spuren die Autorin nun nachgeht.
Das Thema des Buches mag beim anfänglichen Lesen etwas weit hergeholt erscheinen, und in der Tat beginnt der Text etwas holprig. Doch das gibt sich schnell. Was Sophy Roberts bei ihren Recherchen alles zutage fördert und vor allem auch, wie sie erzählt, macht Sibiriens vergessene Klaviere zur gleichermaßen spannenden wie bewegenden Lektüre. Die Geschichte der Instrumente und ihrer wechselnden Besitzer ist genauso fesselnd wie Roberts’ Begegnungen mit den Menschen im Sibirien von heute. Den Beschreibungen der Landschaften merkt man an, dass Sophy Roberts jahrelang für Condé Nast Traveller als Autorin unterwegs war. Auch wenn es sich hier “nur” um einen winzigen Aspekt handelt, fügt Sibiriens vergessene Klaviere dem Gesamtbild der gleichermaßen großartigen wie grausamen Geschichte dieses riesigen Landes eine weitere, hochinteressante Facette hinzu.
Ruth Roebke, Bochum