Zur Autorin/Zum Autor:
Reinhart Koselleck, geb. am 23. April 1923 in Görlitz, gest. am 3. Februar 2006.
Was genau ist Geschichte? Der Literaturwissenschaftler Carsten Dutt lädt ein zu einer Gesprächsrunde mit Reinhart Koselleck (1923–2006), einem der bedeutendsten deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts. Koselleck erzählt als Zeitzeuge und Autobiograph von Kindheit und Jugend im Dritten Reich, skizziert seine Studienzeit in der Gründungsphase der Bundesrepublik und formuliert als Theoretiker brillant Verluste und Fortschritte der Geschichtswissenschaft, vor allem aber die Herausforderungen, die das Fach für ihn persönlich bereithielt.
(ausführliche Besprechung unten)
Was genau ist Geschichte? Der Literaturwissenschaftler Carsten Dutt lädt ein zu einer Gesprächsrunde mit Reinhart Koselleck (1923–2006), einem der bedeutendsten deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts. Koselleck erzählt als Zeitzeuge und Autobiograph von Kindheit und Jugend im Dritten Reich, skizziert seine Studienzeit in der Gründungsphase der Bundesrepublik und formuliert als Theoretiker brillant Verluste und Fortschritte der Geschichtswissenschaft, vor allem aber die Herausforderungen, die das Fach für ihn persönlich bereithielt.
Welche Erinnerungen hat Koselleck, der bei Hitlers Machtergreifung zehn Jahre alt war, an die letzten Jahre der Weimarer Republik und die Anfänge des Dritten Reiches? “Erfahrene Geschichte” nimmt einen mitten hinein in Familienszenen, man erlebt die Rückkehr des Bruders vom Nürnberger Parteitag, auf dem Hitler die berüchtigte Rede über die deutsche Jugend hielt, den Nervenzusammenbruch eines Kollegen des Vaters, der als SA-Mann an der Synagogenverbrennung teilnehmen musste. Das Schweigen über die Ereignisse nach dem 9. November 1938 – stummer Antisemitismus, Schutz der Kinder oder Feigheit? In den beeindruckend offenen und ehrlichen Dialogen dürfen Fragen unbeantwortet stehen bleiben und werden so zu glaubwürdigen Aussagen für die Generationen, die die Zeit nur aus der Geschichte und Familiengeschichten kennen.
Im zweiten Teil des Buches, “Geschichte(n) und Historik”, stellt Koselleck eben dies einander gegenüber: die Geschichte und ihr spekulatives Verlaufswissen, wie es im Geschichtsunterricht noch heute gelehrt wird, und die Pluralität der Geschichten, ihre Vielfalt und Heterogenität, die das eigentlich Spannende, Gehaltvolle der Geschichtswissenschaft ausmachen.
Jeder, der sich für Geschichte(n) interessiert, sollte sich diese lebendigen Aufzeichnungen Dutts nicht entgehen lassen. Das 73 Seiten umfassende Bändchen ist so reich an Lebenserfahrungen, relevanten und tief fundierten Gedanken, dass die fesselnde Lektüre weit über die Zeit des Lesens hinaus wirkt.
Susanne Rikl, München