Zum Buch:
Der neunte Band der Edition des Tagebuchs von Harry Graf Kessler deckt den Zeitraum von 1926 bis zu seinem Tod am 30. November 1937 ab. Die Publikation kann aus mehreren Gründen besonderes Leserinteresse für sich beanspruchen. Zum einen enthält der mehr als 1.000 Druckseiten umfassende Band auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene zahlreiche Beobachtungen aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise und der Destabilisierung der Weimarer Republik, die schließlich im Januar 1933 in der Machtübernahme der Nationalsozialisten mündete. Das Erstarken der NS-Bewegung auf der Straße (man lese nur Kesslers Eintrag zum Altonaer Blutsonntag vom 18. Juli 1932, an dem ein Dutzend Menschen starben) und die fast durchweg hilflosen Reaktionen der großbürgerlich-adligen Umgebung Kesslers darauf werden in klugen, bitteren, zum Teil auch sarkastischen Anmerkungen dokumentiert und reflektiert.
Zum anderen bietet Kesslers Tagebuch detailreich und unsentimental Aufschluss über sein persönliches Schicksal, seine Reisen und sein internationales Freundschaftsnetzwerk, seine Pläne und zerstörten Hoffnungen, bis hin zu den von Krankheiten und Enttäuschung geprägten Jahren des Exils in Spanien und Frankreich. Auch zum Hintergrund von Kesslers Walther Rathenau-Biografie von 1928 erfährt der Leser interessante Details.
Weitere Stationen des Lebensabschnitts, den das vorliegende Tagebuch behandelt (mit mehreren Unterbrechungen), sind etwa die vergeblichen Versuche Kesslers, Geldgeber für eine Revitalisierung der Cranach-Presse zu finden, der erzwungene Verkauf seines Immobilienbesitzes in Weimar, rechtliche Auseinandersetzungen mit Gläubigern und seine nicht über den ersten Band hinausgelangte Autobiografie “Gesichter und Zeiten”, die im Juni 1935 bei S. Fischer in Berlin erschien – mit einer Widmung an die Schwester Wilma, die ihren Bruder in seinen letzten Lebensjahren finanziell bis an die Grenze der eigenen Belastbarkeit unterstützte. Kurze Zeit nach Erscheinen wurde dieses Buch von den deutschen Behörden verboten.
Die Erschließung des Tagebuchs durch die Herausgeber ist zweckmäßig und hilfreich (ein Nachtrag zum Namensregister: bei dem von Kessler erwähnten “Herrn Scholem” handelt es sich vermutlich um den Berliner Druckereibesitzer Reinhold Scholem, wie Kessler Mitglied in der 1911 begründeten Maximilian-Gesellschaft und in der Bibliophilenszene der Reichshauptstadt stark engagiert). Es besteht kein Zweifel am literarischen und historisch-biografischen Wert dieser Edition, die mit diesem neunten Band fast zum Abschluss gelangt ist – der erste Tagebuch-Band (Zeitraum von 1880 bis 1891, mit einer zweiten Volltext-CD-ROM für das Gesamtwerk) steht noch aus, er soll im Herbst 2012 vorliegen. Kesslers Tagebuch ist ein Dokument von überragender Bedeutung für das Verständnis der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte seiner Zeit.
Björn Biester