Zum Buch:
Yaichi ist alleinerziehend. Er kümmert sich um seine Tochter Kana und den Haushalt, sein Geld verdient er als Hausverwalter. Eines Tages steht Mike vor der Tür. Mike kommt aus Kanada, ist kräftig, behaart, freundlich – und der Ehemann von Yaichis kürzlich verstorbenem Zwillingsbruder Ryoji. Die zehnjährige Kana ist verblüfft. Sie wusste nichts von ihrem schwulen Onkel. Und sie ist entzückt, in Mike einen neuen Verwandten zu haben. Sie überredet ihren eher reservierten Vater, den Fremden als Gast aufzunehmen. Mikes Besuch in der Heimat seines geliebten Mannes wird nach und nach auch zu einer Erinnerungsreise für Yaichi, der die Homosexualität seines Bruders akzeptieren, aber nie begreifen konnte. Dass die kleine Kana dabei eine wichtige Rolle spielt, ist nicht überraschend. Ihre Neugier lässt sie sehr offen Fragen stellen und Dinge aussprechen, die ihren Vater auch bewegen. Die nach wie vor strengen gesellschaftlichen (und gesetzlichen) Konventionen erschweren ihm einen offenen Umgang damit.
Der Mann meines Bruders ist ein Manga. Während sich Comics in Form von (und durch den Begriff) Graphic Novels ganz langsam als ernstzunehmende Bildliteratur auch bei uns durchsetzen, gelten Mangas immer noch als Genre für absolute Fans. Dazu kommt, dass man Mangas von hinten nach vorne, von rechts nach links liest (man gewöhnt sich sehr schnell daran).
Das Buch von Gengoroh Tagame ist für Neulinge ein nahezu perfekter Einstieg in die faszinierende Welt des japanischen Comics. Die reduzierte, sehr geordnete Ästhetik der Bilder (die in vielem an die typische japanische Architektur erinnert) eignet sich hervorragend, um Yaichis Kampf um die Ordnung in seinem Leben darzustellen. Geschickt inszeniert Tagame die kulturellen Unterschiede der beiden Männer als eine sehr unterschiedliche Annäherung an den verstorbenen Ryoji, oft über Dinge wie Kleidung und Essen. Dabei bleibt der gesellschaftliche Bezugsrahmen, der eine Öffnung erschwert, immer spürbar. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist in Japan nicht erlaubt. Mike und Ryojis Ehe wurde in Kanada geschlossen. Zwischen den Kapiteln wird in kurzen Texten über die rechtliche Situation von Homosexuellen informiert, aber auch über die Bedeutung des rosa Winkels.
Tagames ruhige Erzählweise macht die inneren Konflikte plausibel; die unterschiedlichen Temperamente der Protagonisten verleihen der Geschichte die notwendige Dynamik. Denn es passiert einiges in Der Mann meines Bruders! Das Ende des ersten Bandes ist ziemlich verblüffend. Manga-Geschichten sind meist auf mehrere Bände angelegt, und auch hier liegt die Nummer 2 schon vor (insgesamt wird es vier Bände geben). Tagames Comic gewann 2018 einen Eisner Award, den weltweit wichtigsten Comicpreis.
Jakob Hoffmann, Frankfurt am Main