Zum Buch:
Eine Lehrerin im beschaulichen Biella in Norditalien erfährt vom Suizid einer ihrer Schülerinnen und geht wie in Trance statt in die Schule in den Wald, um dort zu verschwinden. Langsam entfaltet der Roman den Hintergrund ihres Rückzugs ins Innere und in den Wald angesichts eigener Traumata und Schuldgefühlen sowie die Beziehung zu einem Jungen aus dem Ort, der sie findet und ihre einzige Verbindung zur äußeren Welt wird.
Der Roman beginnt mit dem Verschwinden der Lehrerin Silvia nüchtern und wie ein Bericht. Sie versteckt sich nicht nur, sie zieht sich in jedem Sinne zurück, in geistige Entrückung und körperlichen Verfall. Schnell wird klar, dass die Beziehung zur Schülerin Giovanna eine besondere gewesen sein muss und dass ihr Suizid bei Silvia Wunden aufreißt. Aber das wird über die Länge des Buches in Silvias Halluzinationen, Erinnerungen und in Rückblenden langsam entfaltet. So erzählt In den Wald von den Nöten der 11-jährigen Giovanna: Ihrer armen Familie aus den piemontesischen Bergen, dem gewalttätigen Vater, Problemen in der Schule und nun auch noch die einsetzende Pubertät. Außerdem lesen wir die Geschichte der scheinbar verschrobenen Silvia und ihrer Kindheit im katholischen Internat. Neben dieser Rückschau, die langsam Licht in Silvias Flucht bringt, entwickelt sich die Beziehung zwischen Silvia und dem jungen Martino, der sie zufällig findet und am Leben hält.
Faszinierend schildert die Autorin Silvias Wandel zwischen Phantasmen und vielleicht Wahnsinn auf der einen Seite und dem Leben, das durch Martino zu ihr durchdringt, auf der anderen. Auch Martinos Ringen wird feinfühlig beschrieben: zwischen Silvias Wunsch, nicht gefunden zu werden, und seinem Verantwortungsgefühl und moralischen Fragen, der Last des Geheimnisses und der erhofften Anerkennung des Außenseiters als Retter. Über Nebencharaktere wird langsam eine Atmosphäre der piemontesischen Provinz in den 1970er Jahren aufgebaut, inmitten einfachem Leben in den Bergen und dem nahen industriellen Molloch Turin, archaisch vor allem in den Männerfiguren. Zur dichten Atmosphäre des Romans trägt auch die Sprache Maddalena Vaglio Tannets bei, die einerseits nüchtern und sachlich ist, aber immer wieder auch ausgefallene Metaphern und impressionistische Bilder bereithält. Besonders der titelgebende Wald wird lebendig: bedrohlich, aber auch eine Zuflucht.
Henryk Joost, Frankfurt a.M.