Zum Buch:
“Er schläft auf der Bank”. So beginnt Marie-Hélène Lafon ihren neuen Roman Die Quellen.
Auf einem abgelegenen Hof in der Auvergne leben eine junge Frau, ihre drei Kinder, ein Dienstmädchen, ein Gehilfe, ein Kuhhirt – und er, der Bauer. Es gibt wenig Abwechslung, einzig an Sonntagen besucht die Familie abwechselnd die tiefer gelegenen Höfe der Eltern. Die Arbeit ist hart aber ihr Hof gedeiht, sie haben Landmaschinen und ein Auto. Es könnte ein gutes Leben sein, aber jeden Samstag, seit sie geheiratet haben, misshandelt der Bauer seine Frau. Niemandem kann sie es erzählen, denn über “so etwas” wird auf dem Land nicht gesprochen und sie hat “ihren Stolz”. So ist der Hof zur Falle geworden aus der die Frau keinen Ausweg sieht, denn so wenig, wie man über das eigene Elend spricht, so wenig lässt man sich 1967 auf dem Land scheiden und verliert damit alles.
Die Quellen ist ein schmales Buch aber ein großer Roman, erzählt einer klaren, schnörkellosen Sprache. Nichts wird ausgeschmückt oder erklärt. Die Sätze sind knapp, präzise und einfach – aber jede einzelne von ihnen ist wichtig. Die Lesenden befinden sich im Kopf der Protagonisten, sind in deren Gedankenstrom, der zwischen Gegenwart und Vergangenheit herumschweift. Anhand weniger Tage, verteilt über die Jahre 1967 bis 2021, erzählt der Text von Härte, Einsamkeit, Emttäuschung und Leid bis an eine Grenze, wo es nicht mehr weiter zu gehen scheint und sogar die Angst verschwindet. Die Handlung beginnt im Juni 1967 und das erste Kapitel ist aus der Sicht der Frau erzählt. Knapp achtzig Seiten weiter und sieben Jahre später sind wir im Kopf des Mannes und am Ende des Buches übergibt die jüngere Tochter des Paares den Hof an neue Eigentümer.
Die Genauigkeit der Milieuschilderung und das Fehlen jeglicher Sentimentalität erinnern an die soziologische Prosa von Annie Ernaux, nur dass Marie-Hélène Lafon ohne biographische Bezüge schreibt und auch ohne Erklärungen oder Urteile, was den Text ungeheuer verdichtet. Die Quellen hat knapp 120 Seiten, der große Roman entsteht im Kopf der Lesenden.
Ruth Roebke, Frankfurt a. M.