Zum Buch:
Mistral spielt während der 1920er Jahren in der Provence. „Nicht in der Kultur-Provence“ schreibt die Übersetzerin Amelie Thoma, die das Buch für deutsche LeserInnen entdeckt hat, in ihrem Nachwort, „sondern östlich, in den Alpen der Haute-Provence, wo es nur Felsen, Sonnenblumen und Lavendelfelder gibt. (…) Keine Kultur.“ Dort lebt Marie in einem kleinen Dorf, das an dem Hang unter einer Hochebene klebt, über die tagein, tagaus der Wind fegt: Der „Montagnére“, der „Levante“ und der „Mistral“, der kalte Fallwind aus den Alpen, der brüllt, tobt und die Menschen durchschüttelt bis auf die Knochen. Marie ist die Älteste von sechs Geschwistern und deshalb nicht viel zur Schule gegangen. Sie ist die rechte Hand ihrer Mutter und scheut keine Arbeit – und die ist hart in dieser kargen Gegend. Aber Marie ist glücklich mit ihrem Leben. Sie ist jung und strahlend, wird von allen im Dorf gemocht, und nicht nur die jungen Männer blicken ihr sehnsuchtsvoll hinterher. Eines Tages trifft sie in der Ölmühle, in die die Familie ihre Früchte zum Auspressen bringt, auf Oliver, und die Liebe bricht über sie herein wie der plötzlich auftauchende Mistral. Aber Oliver weckt zwar ihr Begehren, erwidert aber nicht ihre Liebe – und der Mistral in Marie wütet weiter …
Dieses schmale Buch ist etwas ganz Besonderes. Die Autorin Maria Borrély hat 1909, im Alter von neunzehn Jahren, ihre erste Stelle als Lehrerin in einem Bergdorf in den Seealpen angetreten. Vierzehn Jahre lang hat sie in dem kleinen Ort Puimoisson in der Haute Provence gelebt. Die Landschaft, die Menschen und die rauen Bedingungen, denen sie ausgesetzt waren, kannte sie gut, und dieses Wissen brachte sie in diesem ersten ihrer vier Romane ein. Für die harte Arbeit und die schlichten, aber keinesfalls unbedarften Menschen findet sie eine klare und sensible Sprache. Die wirkliche Hauptdarstellerin in diesem Buch ist jedoch die Natur. Sie ist das Bühnenbild für das Geschehen; Himmel und Wolken, Pflanzen, Wind und Wasser sind ständig präsent. In immer neuen Bildern, frei von allem Kitsch, beschreibt Borrély die Farben, das Licht, die Geräusche und Gerüche einer Landschaft, die den Menschen vieles abverlangt, ihnen aber ein Vielfaches wiedergibt. Borrély nimmt die LeserInnen unmittelbar mit in das Geschehen, und das Wunderbare an der Lektüre von Mistral ist, dass nichts davon an die weichgespülte Provence-Prosa eines Marcel Pagnol oder gar Peter Mayle erinnert.
Ruth Roebke, Frankfurt a. M.