Zum Buch:
Ein alter graubärtiger Mann, die Hände tief in den Taschen seines Parkas verborgen, sitzt auf einem ausrangierten Autositz auf seiner Veranda, von wo aus er die Straße überblickt. Zwischen den verfallenen Gebäuden und Brachen ist sein Haus eines der wenigen noch bewohnten. Die Stadt ist verwaist. Fußgänger sieht man nur selten hier. Fährt ein Auto vorbei, sieht der Alte ihm hinterher, noch lange, nachdem es aus seinem Blickfeld verschwunden ist. Das ist alles. Viel mehr gibt es nicht zu tun.
Detroit im Herbst 2023. Die unmittelbar an der Grenze zu Kanada gelegene Hauptstadt des US- Bundesstaates Michigan ist zum Paradebeispiel für den Untergang der Moderne verkommen. In anderen, besseren Zeiten, an die heute nur noch Ruinen und wie verbarrikadierte Bars und Einkaufszentren erinnern, zog es zu Beginn des 20. Jahrhunderts Scharen von Arbeitern aus dem gesamten Land in die aufblühende Industriestadt, die besonders durch die Niederlassung von General Motors regelrecht boomte. Hier, in Motown, konnte es jeder zu etwas bringen.
Vorhanden ist von diesem einstigen Reichtum nichts mehr. Im Gegenteil, besonders in den verlassenen Vororten verkommt Detroit zusehends, gleicht der Filmkulisse einer Geisterstadt der 20er und kann lediglich mit negativen Superlativen aufwarten: Einzige Stadt der USA dieser Größenordnung, die eine Insolvenz anmelden musste. Höchste Armuts- und Kriminalitätsrate aller Bundestaaten. Größtes verlassenes Fabrikgebäude weltweit. Und nirgendwo sonst im Land ist die Abwanderung derart hoch wie hier. Eine Stadt in Agonie.
In seiner umfassenden, fundierten Dokumentation schildert Wolfgang Koelbl eloquent und aufschlussreich den Abgesang der Moderne am Beispiel Detroits, der keineswegs nur durch den Niedergang der Autoindustrie eingeläutet wurde, der vielmehr hausgemacht ist. Wofür gleich mehrere Faktoren sprechen: Banken, die unbedacht Kredite wie bereits abgestempelte Freifahrtscheine in die direkte Armut vergaben. Beträchtliche Versäumnisse in Bezug auf Reinvestitionen. Undurchdachte Sparmaßnahmen und Privatisierungen infolge eklatanter Misswirtschaft und nicht zuletzt Korruption – also das politische Versagen einer skrupellosen, von Inkompetenz und Fahrlässigkeit durchtränkten Politik auf ganzer Ebene.
Ein weiteres Motorengeräusch lasst den alten Mann den Kopf heben. Er erkennt sofort, dass es sich um einen Buick LaCrosse handelt. Der wurde hier gebaut. Hier in Detroit. Wo auch der Amerikanische Traum geboren wurde – und wo er starb.
Autorenporträt:
Wolfgang Koelbl, österreichischer Architekt und Architekturwissenschaftler, ist Gründungspartner des Büros Koelbl-Radojkovic in Wien und lehrt an der Technischen Universität Wien Gebäudelehre und Entwerfen. Er gewann zahlreiche Preise, darunter 1994 den Friedrich Zotter Gedächtnispreis.
Axel Vits, Köln