Zum Buch:
Jetzt, wo ihre Mutter langsam in der Demenz verschwindet und sicher keine Fragen mehr über jahrzehntelang Totgeschwiegenes beantworten wird, macht sich Zora del Buono auf die Suche nach ihrem Vater, der bei einem Autounfall ums Leben kam, als sie gerade mal acht Monate alt war. Von Berlin aus, wo sie heute lebt, begibt sie sich auf eine Reise in die Schweiz und in die Vergangenheit, die ihrer Eltern und die eines Gerichtsprozesses. Im Gespräch mit Archivaren, Zeit- und Unfallzeugen nähert sie sich einer von vielen möglichen Wahrheiten an.
Immer hin und her gerissen zwischen dem Drang, endlich wissen zu wollen, und dem gegenläufigen Bedürfnis, die Vergangenheit ruhen zu lassen – (…) eine sich verlaufende Spur als Befreiung.“¬–, nimmt uns die Autorin mit in abgelegene Gegenden der Schweiz, in der sie als Fremde nur ungern geduldet und bei ihren Recherchen schon gar nicht unterstützt wird. Die Lebensgeschichte des Unfallverursachers, der durch jedes Detail immer mehr vom gesichtslosen „Töter“ zu einem realen Menschen wird, nimmt zunehmend Raum ein und bringt Bewegung in die Sedimente vergrabener Gefühle.
Dass ein abwesender Elternteil, oder vielleicht eher die Leerstelle, die dieser hinterlässt, ein ganzes Leben prägen kann, ist nicht neu. In del Buonos Fall drängt sich jedoch der Gedanke auf, dass ihm eigentlich erst das Schweigen über den Verlust Allmacht verleiht. Heilung ausgeschlossen, solange keine Luft an die Wunde kommen konnte. So überlebensnotwendig es offenbar für del Buonos Mutter damals war, alle Erinnerungsseile zu kappen, so heilsam hätte für die Tochter das Sprechen über den verlorenen Menschen vielleicht sein können, sinniert die Autorin gegen Ende des Buches. Wie wäre es gewesen, früher nach dem Unfallverursacher zu suchen, ihn zu finden und vielleicht sogar einmalig getroffen zu haben? Auszusprechen, welches Leid der Unfall damals der Familie zugefügt hat und wie groß die Last der Schuld für den Anderen gewesen ist? So aber blieb jeder allein mit seinem Teil des Geschehenen und dessen Folgen.
Die Tragik der Geschichte löst Zora del Buono durch ihre klare, immer sachliche Sprache und ihre wunderbar anekdotische Erzählweise vollständig auf. Die Autorin, im Kaffeehaus sitzend, versorgt uns in Einschüben mit gedanklichen Exkursen über Vaterlosigkeit, verunglückte Schafe im Roten Meer oder die unglaubliche Zahl von 50 Millionen Menschen, die ihr Leben ans Auto verloren, seit das erste Kraftfahrzeug aus der Fertigungshalle rollte. „Man stelle sich vor, es käme durch Zugunglücke zu so vielen Toten, durch Flugzeugabstürze oder Hundebisse, da wäre doch die Hölle los (keine Hunde mehr erlaubt). Beim Auto hingegen: ist halt so.“
Seinetwegen ist ein kluges, leises und vielschichtiges Buch. Unbedingt lesenswert.
Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt