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Nach dem Gedächtnis

Autor
Stepanova, Maria

Nach dem Gedächtnis

Untertitel
Roman. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja
Beschreibung

In ihrem Roman Nach dem Gedächtnis erzählt Maria Stepanova, Lyrikerin und Chefredakteurin des unabhängigen russischen Kulturportals colta.ru, vom Versuch einer Erzählerfigur, die eigene Familiengeschichte zu schreiben. Anhand von Fotos, Gegenständen und Orten rekonstruiert die Ich-Erzählerin Begebenheiten und reflektiert dabei vor dem Hintergrund von Erinnerungsforschung und Geschichtsphilosophie die eigene Situation als Erzählerin. Nach dem Gedächtnis ist ein Erinnerungsroman, der durch seine selbstkritische Reflexivität das populäre Genre nicht nur bedient, sondern auch selbst thematisiert und deshalb überaus lesenswert ist.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2018
Seiten
527
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-518-42829-0
Preis
24,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Maria Stepanova, geboren 1972 in Moskau, ist Lyrikerin, Essayistin und Journalistin und eine der markantesten Gestalten des gegenwärtigen literarischen Lebens in Russland. Chefredakteurin der Internetzeitschrift colta.ru.

Zum Buch:

In ihrem Roman Nach dem Gedächtnis erzählt Maria Stepanova, Lyrikerin und Chefredakteurin des unabhängigen russischen Kulturportals colta.ru, vom Versuch einer Erzählerfigur, die eigene Familiengeschichte zu schreiben. Anhand von Fotos, Gegenständen und Orten rekonstruiert die Ich-Erzählerin Begebenheiten und reflektiert dabei vor dem Hintergrund von Erinnerungsforschung und Geschichtsphilosophie die eigene Situation als Erzählerin. Nach dem Gedächtnis ist ein Erinnerungsroman, der durch seine selbstkritische Reflexivität das populäre Genre nicht nur bedient, sondern auch selbst thematisiert und deshalb überaus lesenswert ist.

Es sagt viel über den gesamten Roman aus, dass die Erzählung in der vollgestellten Wohnung der gerade verstorbenen Tante der Erzählerin beginnt. Die Tante, Galja, räumte immer wieder um und verlor dabei irgendwann den Überblick, sodass die Gegenstände und die Zeiten, von denen sie zeugen, nach Galjas Tod in dem Durcheinander ihren einstigen Bedeutungszusammenhang verloren haben. Die Erzählerin versucht nun, sich mit Hilfe ihrer eigenen Fantasie diesen Zusammenhang zu erschließen. Dinge aus früheren Zeiten, Stühle, Tassen, Nippes, sind für die Erzählerin neben Fotos die wichtigsten Informationsträger für die Vergangenheit ihrer Familie, und in Erdbeermarmeladengläsern sieht sie einstiges Sommerlicht konserviert glänzen. In den Dingen erkennt die Erzählerin die Spuren ihres einstigen Gebrauchs, als sie noch eingebunden waren in einen Alltag, deren Akteure nicht mehr leben und nicht mehr davon erzählen können.So bekommt sie über Gegenstände einen Zugang zu einer Zeit, in der sie noch nicht geboren war. Sie betrachtet die Fotografien ihrer Vorfahren, kommentiert die Gesten, Blicke und Kleider der damaligen Zeit und rekonstruiert die Geschichten, die mit den Personen und Situationen auf den Fotos verbunden sind. Mit diesem Schwelgen in Dingen und den Vorstellungen davon, wie es damals gewesen sein könnte, entsteht Stück für Stück eine Erzählung über das vorrevolutionäre russische Bürgertum, über der ein nostalgischer Sepia-Filter liegt.

Aber das Bild der Familiengeschichte bleibt nicht auf der Ebene des Vintage-Kitsches. Von den zum Teil rekonstruierten, zum Teil hinzufantasierten Erzählungen aus der Geschichte der russisch-jüdischen Familie der Erzählerin bleibt am lebendigsten die Geschichte der Urgroßmutter Sarra Ginsburg im Gedächtnis, die als junge Frau in Paris Medizin studierte, die Revolution unterstützte und dann in der Sowjetunion bis 1949, dem Jahr, als „Kosmopoliten“ und Juden reihenweise entlassen und verfolgt wurden, als Ärztin arbeitete. Wie die Geschichte der Urgroßmutter ist die der ganzen Familie eng verbunden mit dem Schicksal der Juden in der vorrevolutionären Zeit, der Sowjetunion und dem postkommunistischen Russland. Geschichten von Verfolgung, Emigration und Demütigungen ziehen sich durch das ganze Buch, bis hin zu den eigenen Erfahrungen der Erzählerin als junge Frau im Moskau der 1990er Jahren. Hinter dem Alltäglichen der Gegenstände entdeckt die Erzählerin so auch eine ständige Furcht, die, so vermutet sie, dazu geführt hat, dass sich ihre Vorfahren stets darum bemühten, unauffällig zu bleiben.

Ein weiteres Element, das die nostalgisch-kitschige Stimmung bricht, ist die selbstkritische Reflektiertheit, mit der die Erzählerin über ihre Sehnsucht schreibt, das Vergangene fassbar zu machen. Sie zieht einschlägige Texte der Erinnerungsliteratur heran, von Aleida Assmann bis zu W. G. Sebald und der Geschichtsphilosophie, kommentiert ausführlich ihre Empfindungen bei der Betrachtung von Charlotte Salomons Leben? Oder Theater? und betrachtet sich selbst als Erinnernde und Betrachtende dabei aus einer Distanz. Selbst der Postmemory-Generation zugehörig, der die Erinnerung an die Extremerfahrungen des 20. Jahrhunderts in der Familie vermittelt wurde, schreibt sie so in erster Linie ein Buch über diese Generation. Immer wieder reflektiert sie die Momente, an denen sie das Gefühl hat, mit ihrem Unterfangen zu scheitern, und diskutiert die Möglichkeit, dass ein Wissen um den Erinnerungsdiskurs den Zugang zur Erinnerung versperren könnte. Es bleiben die Gegenstände, die natürlich auch sogleich in das Theoriegeflecht eingewoben werden, aber doch für einen Moment eine Widerständigkeit entfalten. In diesem einen Moment gelingt dann der sehr persönliche Zugang zur Vergangenheit. Es ist ein großes Verdienst dieses Buches, dass es geduldig auf diese Momente wartet, und es braucht alle 525 Seiten, um sie hervorzuholen. Der Leser, wenn er ebenfalls geduldig ist, kann sich auf diese Momente freuen.

Alena Heinritz, Graz