Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Stern, Anna

das alles hier, jetzt.

Untertitel
Beschreibung

Am 8. November erhielt die 30-jährige Autorin Anna Stern den diesjährigen Schweizer Buchpreis – zu Recht! Ihr Roman das alles hier, jetzt reiht sich zwar in eine lange Liste der Bücher über Trauer, Verlust und Kindheitserinnerungen ein, doch ist der Autorin etwas völlig Neues geglückt.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Salis Verlag, 2020
Format
Gebunden
Seiten
248 Seiten
ISBN/EAN
978-3-03930-000-6
Preis
24,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Anna Stern, geboren 1990 in Rorschach, doktoriert und schreibt in Zürich. Zuletzt erschienen »Wild wie die Wellen des Meeres« (2019, Roman, Salis), beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 2018 mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet, »Beim Auftauchen der Himmel« (2017, Erzählungen, lectorbooks), »Der Gutachter« (2016, Roman, Salis) und »Schneestill« (2014, Roman, Salis). »das alles hier, jetzt« ist Anna Sterns vierter und formal gewagtester Roman. Sie ist Förderpreisträgerin der St. Gallischen Kulturstiftung. 2019 zeichnete die Stadt Zürich ihr literarisches Werk aus.

Zum Buch:

Am 8. November erhielt die 30-jährige Autorin Anna Stern den diesjährigen Schweizer Buchpreis – zu Recht! Ihr Roman das alles hier, jetzt reiht sich zwar in eine lange Liste der Bücher über Trauer, Verlust und Kindheitserinnerungen ein, doch ist der Autorin etwas völlig Neues geglückt. Auf formaler Ebene könnte man das Buch als experimentell bezeichnen, was potentielle LeserInnen jedoch zu Unrecht abschrecken könnte.

Ananke stirbt und Ichior trauert. Sie waren Freunde seit ihrer gemeinsamen Kindheit. Mit Ichiors Erinnern eröffnet Stern einen tiefen Blick in eine gemeinsame Vergangenheit: Tage voller Wärme, Unmittelbarkeit und Intensität. Durch die Verwendung unüblicher Namen vermeidet Stern konsequent eine Zuweisung von Geschlechtern, es gibt keine verräterischen Possessivpronomen, und erzählt wird ausschließlich in der zweiten Person. Indem ein namenloser Erzähler Ichior direkt anspricht und Erinnerungen beschreibt, entsteht etwas verwirrend Eindringliches, wie eine distanzierte Nähe. Ganz nah bei Ichior ist der Blick auf die Trauer so viel deutlicher und unverstellter, als würde Ichior all dies aus der Ich-Perspektive erzählen.

Das Hin- und Herspringen zwischen den leuchtenden Kindertagen und einem fassungslosen Jetzt geschieht auch auf formal sichtbarer Ebene: die jeweils linke Seite ist für das Jetzt reserviert. Die Erinnerungen hingegen mäandern in etwas blasserem Schriftbild über die jeweils rechte Seite, manchmal über mehrere rechte Seiten, immer wieder unterbrochen vom Hier und Jetzt links. Was in der Beschreibung kompliziert klingen mag, geschieht beim Lesen ganz intuitiv. So wie das menschliche Denken fast nie chronologisch oder logisch geordnet vor sich geht, so schreibt Anna Stern ihren Text.

Mit das alles hier, jetzt findet sie eine gänzlich neue und ungemein überzeugende Erzählform. Sinnlich und nah ist auch Sterns Sprache. Die von ihr heraufbeschworenen Bilder haben eine enorme Kraft. Die Unbegreiflichkeit der Trennung, die Lähmung durch die Trauer, die scheinbar für immer den Alltag begleitet, all das hat die junge Autorin auf eine außergewöhnliche Weise festgehalten. „(…) ein schmerz, der die Speiseröhre hinaufkriecht, dir die worte stiehlt, die abbilden könnten, was gerade. was gerade nicht. was in dieser form nie mehr: eine familie.“

Trauer, Schmerz und Abschied zählen zu den Themen, die LeserInnen oft abschrecken, obwohl ein Buch, wie das hier mit Begeisterung empfohlene, ermutigend sein kann. Im letzten Drittel versöhnen sich sogar Verlust und Erinnerung in einer Art fulminantem Roadtrip mit skurrilem Ziel.

Sterns Übersetzung menschlicher Erfahrungen in Sprache, ohne über Pathos oder Rührseligkeit zu stolpern, ist hohe literarische Kunst. Wenn Stern sagt, dass „schreiben für sie ein Prozess des Entdeckens und des Verstehens“ ist, folgen wir ihr gerne auf weiteren Entdeckungsreisen. Von dieser jungen Autorin werden wir hoffentlich noch viel zu lesen bekommen.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt