Zum Buch:
Der Legende nach soll die letzte Accabadora noch in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in Orsolo auf Sardinien gewirkt haben. Am besten lässt sich Accabadora vielleicht mit Sterbehelferin übersetzen.
Michela Murgia stammt selbst aus Sardinien und ist nach einigen Jahren in Mailand wieder dorthin zurückgekehrt. In ihrem Erstlingswerk evoziert sie die noch sehr lebendige Erinnerung an eine archaisch anmutende Welt mit so geheimnisvollen Ritualen und Gebräuchen, dass man sie nur schwer mit einem modernen Italien in Einklang bringen kann.
Erzählt wird die Geschichte von Bonaria Urai, einer kinderlosen, aber für die dörflichen Verhältnisse recht wohlhabenden Schneiderin, und von Maria Listru, der vierten Tochter einer mittellosen Witwe. Maria widerfährt das Glück, im Alter von 6 Jahren von Bonaria adoptiert, zur fille anima zu werden. Diese, wie ich aus dem aufschlussreichen Glossar des Buches gelernt habe, in Sardinien seit langem praktizierte Form der Adoption wird ganz ohne behördliche Einmischung vollzogen. Es ist eine Angelegenheit des Herzens: eine kinderreiche Familie gibt eines ihrer Kinder an ein kinderloses Paar oder wie in diesem Fall an eine Alleinstehende ab. Das Kind bleibt dabei aber in engem Kontakt zu seiner Ursprungsfamilie. Tzia, Tante Bonaria, wie Maria ihre Pflegemutter liebevoll nennt, erkennt schon früh die Begabung des Mädchens und fördert es nach Kräften. Sie schickt Maria zur Schule, was in den Dörfern keine Selbstverständlichkeit ist, und ermuntert das intelligente Kind zum Lernen. Maria entwickelt sich zu einer eifrigen und erfolgreichen Schülerin, was wiederum nicht von allen im Dorf gern gesehen wird, insbesondere von ihrer leiblichen Mutter und Marias Schwestern.
In ihrem neuen Zuhause hat Maria ein eigenes Zimmer und täglich genug zu Essen, für sie ganz neue Erfahrungen. Obwohl sie sich Maria Bonarias Zuneigung sicher ist und auch sein kann, erlebt sie in ihrem Zusammenleben eine für sie oft schwer verständliche Distanz. Auch scheint Bonaria etwas vor ihr zu verbergen. Manche Beobachtungen und Ereignisse verstärken diesen Verdacht. Maria ahnt, dass Bonaria etwas Geheimnisvolles umweht, dass es etwas gibt, das sie trotz der geförderten Wissbegierde und Neugier besser nicht erfahren soll. Erst als junge Frau findet Maria heraus, dass sie von der Accabadora des Dorfes adoptiert wurde. Maria ist entsetzt, und eine Welt bricht für sie zusammen. Es kommt zum Bruch, und Maria verlässt Hals über Kopf Sardinien.
In Michela Murgias grandiosem Roman geht es um Wahrheit und Wahrhaftigkeit, um Gewissheit, Zweifel, Selbstzweifel und Stolz, um Ehrlichkeit, Redlichkeit, Mut und Ehre, und um noch Vieles mehr. Accabadora ist ein besonderes, ein authentisches Buch, das einen tiefen Eindruck hinterlässt: es berührt elementare Fragen des Lebens und Sterbens.
Ralph Wagner, Ypsilon Buchladen & Café, Frankfurt