Zum Buch:
Es ist Hochsommer in Norwegen. Die Menschen ächzen unter einer ungewöhnlichen Hitzewelle, selbst nachts fallen die Temperaturen nicht unter dreißig Grad – und plötzlich erscheint ein neuer, riesengroßer Stern am Himmel. Ein Zeichen? Und wenn ja, wofür? Das ist die Ausgangslage in Karl Ove Knausgards neuem Buch Der Morgenstern, seinem ersten langen fiktionalen Text seit dem Ende des sechsbändigen autobiographischen Projekts.
Die Handlung ist auf neun Hauptfiguren verteilt: Arne ist mit seiner psychisch labilen Frau und den Kindern in einem Ferienhaus und nutzt eine vermeintlich sichere Pause vom Familienstress, um seine Stimmung mit ein wenig Alkohol aufzuhellen, was in einem langen, sorgfältig dosierten Alkoholrausch mündet. Am Ende baut er mit dem Auto einen Unfall, nachdem er auf einem Waldweg Hunderte von Krebsen gesehen hat. Die Pfarrerin Kathrine ist auf dem Rückweg von einer Tagung. Auf dem Flughafen begegnet sie mehrfach einem ihr unbekannten Mann, den sie unter mysteriösen Umständen kurz darauf wieder sehen wird. Der abgehalfterte Journalist Jostein erfährt nach einer langen Nacht mit Sex und Alkohol von einem brutalen Mord an drei Mitgliedern einer Death-Metal-Band und hofft, mit diesen Informationen wieder zurück in sein altes Metier als Kriminalreporter zu kommen. Die Krankenschwester Solveig erlebt bei einer Organentnahme für Transplantationen, wie das Herz des medizinisch eindeutig toten Spenders wieder zu schlagen beginnt. Der Dokumentarfilmer Ergil sieht auf einem langen nächtlichen Gang durch den Wald ein riesiges, vogelartiges Wesen. Auch die anderen Protagonisten haben Erlebnisse oder Erscheinungen, bei denen sie nicht unterscheiden können, ob es sich um innere oder äußere Phänomene handelt.
Langsam entsteht eine zunächst latente, dann immer manifestere Atmosphäre der Bedrohung, werden die dunklen Erscheinungen immer drastischer und die Grenzen zwischen Realität und Phantastik immer durchlässiger. Aber was an der Oberfläche wie ein Mystery-Thriller wirkt, in dem sich seltsame Phänomene und ein reales Verbrechen immer weiter ineinander schrauben, berührt – wie so oft bei Knausgard – die universalen menschlichen Fragen: nach der Sinnhaftigkeit von Leben und Tod, nach Zweifel und Glauben, nach Gott und seinem ewigen Widersacher (nicht umsonst ist Lucifer der lateinische Name des Morgensterns), und wechselt zwischen atemberaubender Spannung und tiefgründigen Überlegungen, und das so fesselnd, dass man auf das baldige Erscheinen der angekündigten Fortsetzung(en) hofft.
Ruth Roebke, Frankfurt a. M.