Zum Buch:
Im geografischen und atmosphärischen Zentrum des kleinen Städtchens Templeton, New York, liegt ein See, in dem seit Urzeiten ein riesiges Ungeheuer lebt einige haben es gesehen, viele beim Schwimmen gespürt. Lauren Groff beginnt ihren Roman mit seinem Ende An dem Tag, als ich, knietief in der Schande, nach Templeton zurückkehrte, tauchte im Flimmerspiegelsee der über fünfzehn Meter lange Kadaver eines Ungeheuers auf lässt sie die Ich-Erzählerin sagen und lockt ihre Leser mit diesem eindrucksvollen Beginn auf eine falsche Fährte. Denn auch wenn das Genre Schauerroman mehrfach bedient wird, bleibt es Staffage. Es gibt jede Menge dunkle, mächtige Familiengeheimnisse, unheimliche Ahnenporträts und sogar Hausgeister, die durch ihr Verhalten die Stimmung der Protagonistin abbilden. Der Roman ist aber eher eine ausufernde Familiensaga, ironisch, witzig, spannend und literarisch, die etwa zwei Jahrhunderte umspannt, und nicht zuletzt ist er das Porträt der jungen unspektakulär-sympathischen Willie Upton.
Wer ist diese Ich-Erzählerin und von welcher Schande spricht sie? Willie Upton ist 28 Jahre alt und ein Sprössling der Familie Marmarduke Temples, der Templeton im ausgehenden 18. Jahrhundert gegründet hat. Sie steht kurz vor dem Abschluss ihrer archäologischen Dissertation an der Universität Stanford, als sie nach einer Affäre mit ihrem Doktorvater schwanger in ihren Heimatort flüchtet. Dort erwartet sie Vi, ihre 46-jährige Mutter, Ex-Hippie und nun mit dem Pastor einer fundamentalistischen Kirche liiert. Vi konfrontiert ihre Tochter damit, dass ihr Vater nicht, wie sie stets behauptet hatte, einer ihrer drei WG-Genossen, sondern ein Mann aus Templeton sei und in direkter Linie von dem sagenhaften Marmaduke Temple abstamme genau wie Willie selbst. Um ihren Vater zu finden, dessen Namen ihr die Mutter nicht verrät, erforscht Willie die Familien- und somit zugleich die Stadtgeschichte.
Es sind viele unterschiedliche Stimmen, die in Groffs Roman zu Wort kommen: nordamerikanische Ureinwohner, Siedler und Sklaven, Willies Freunde und Verwandte, eine alte Archivangestellte. Die Autorin transportiert ihre Geschichten mit unterschiedlichen Stilmitteln: Zeitungsberichten, privater Korrespondenz, einer Bronzestatue von Chingachook, Tagebucheinträgen, Gemälden und Fotografien und illustriert damit den immer lebendiger werdenden Stammbaum.
Man könnte bemängeln, dass die Autorin ein bisschen viel in ihren Roman gepackt hat, zu viele Verwicklungen, zu viele Abschweifungen. Vielleicht ist die Verortung des Ganzen im fiktionalisierten Heimatort der Autorin auch typisch für ein Romandebüt. Aber im Grunde macht das nichts aus, denn Groff gelingt es, alles zusammenzuhalten, so dass der Roman ein reines Vergnügen ist. Und zum Glück ist er auch noch richtig dick. Claudia Biester, Autorenbuchhandlung Marx & Co, Frankfurt am Main