Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Giovene, Andrea

Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero

Untertitel
Ein junger Herr aus Neapel. Roman. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
Beschreibung

Ein junger Herr aus Neapel ist der erste von fünf Bänden des Zyklus’ Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero. Auch wenn Namen der handelnden Personen nicht übereinstimmen und die Bücher als Romane bezeichnet werden ist – liest man den Lebenslauf des Autors – deutlich, dass es sich um dessen Lebensbeschreibung handelt.

Der erste Band umfasst die Jahre vor Italiens Eintritt in den Ersten Weltkrieg und endet Mitte der 1920er Jahre. Giuliano di Sansevero ist der Spross eines uralten neapolitanischen Adelsgeschlechts, dem es gelungen ist, ein im Lauf von Generationen angehäuftes Vermögen zu verschwenden. Giovene erzählt die Kindheit und Jugend Giuliano di Sanseveros in einer untergehenden Welt vor dem Hintergrund des Krieges und des aufkommenden Faschismus.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Galiani Berlin, 2022
Format
Gebunden
Seiten
304 Seiten
ISBN/EAN
978-3-86971-265-9
Preis
26,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Andrea Giovene (1904–1995) war Spross der neapolitanischen herzoglichen Familie der Girasole, die sich bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Er besuchte eine Klosterschule und wurde nach dem Studium Autor. Als Kavallerieoffizier im Zweiten Weltkrieg geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft und war Zwangsarbeiter in Norddeutschland. Seine Romanfolge Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero (5 Bände zwischen 1966 und 1970) war ein sensationeller Erfolg, wurde preisgekrönt, für den Nobelpreis nominiert und in verschiedene Sprachen übersetzt. Jetzt erscheint sie erstmals vollständig auf Deutsch.

Zum Buch:

Lange bevor es im Literaturbetrieb Mode wurde, das eigene Leben, auf mehrere Bände verteilt, zu erzählen, hat der italienische Schriftsteller Andrea Giovene die fünfbändige Autobiographie des Giuliano di Sansevero verfasst. Auch wenn die Namen der handelnden Personen nicht übereinstimmen und die Bücher als Romane bezeichnet werden ist – liest man den Lebenslauf des Autors – deutlich, , dass es sich um dessen Lebensbeschreibung handelt, die jetzt, nach einer wechselvollen Publikationsgeschichte, erstmals chronologisch geordnet komplett auf Deutsch bei Galiani erscheint.

Der erste Band Ein junger Herr aus Neapel beginnt mit der Kindheit und Jugend des Protagonisten. Er umfasst die Jahre vor Italiens Eintritt in den Ersten Weltkrieg und endet Mitte der 1920er Jahre. Giuliano di Sansevero ist der Spross eines uralten neapolitanischen Adelsgeschlechts. Er wächst in dem riesigen, heruntergekommenen Palast der Familie auf. Der in früheren Jahrhunderten erworbene Reichtum der Sanseveros ist im Laufe der Zeit aus Desinteresse und Verantwortungslosigkeit fast zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft, und das solide Vermögen, das der Vater, ein Architekt und Bauunternehmer, selbst erwirtschaftet hat, fällt zunehmend dessen Sucht nach Antiquitäten und Kunstschätzen zum Opfer.

Die Eltern pflegen ein verschwenderisches Gesellschaftsleben, in dem ihre Kinder kaum eine Rolle spielen. Ihnen sind feste Rollen zugewiesen: Ferrante, der Älteste, wird zum Repräsentanten der Familie erklärt, Guilianos kindliches Vergnügen an Bauklötzchen bestimmt ihn – ungeachtet seiner Neigungen – zum Ingenieursstudium, und die Töchter werden heiraten. Mit neun Jahren wird Guiliano in ein Klosterinternat gesteckt. Es sind Jahre der Isolation, der Kälte und der harten Disziplin. Aber auch wenn der Klosteraufenthalt eine Tortur war, geben ihm die dort vermittelte “Benediktinische Arbeitsregel” und Bildung später in schwierigen Zeiten Halt und helfen ihm, Einsamkeit zu ertragen.

Wieder in den Palast zurückgekehrt, sucht Giuliano sich ein völlig abgesondertes Zimmer, in dem er liest und erste Schreibversuche unternimmt und aus dem er nur zum gemeinsamen Abendessen auftaucht. Lesen und Schreiben werden ihm in der Pubertät und später zunehmend zur Rettung vor dem inneren Chaos der ihm unbekannten Gefühle.

In Berührung mit dem Neapel der Armen kommt Giuliano durch die öffentliche Schule, in die der Vater, der seine Absonderung durchbrechen will, ihn schickt. Den Unterricht schwänzt er öfter, als er ihn besucht, und lernt stattdessen Pokern. Das Geld, das er dabei verliert, beschafft er sich durch Verkäufe von Kunstgegenständen aus dem Palast. Durch seine Klassenkameraden kommt er in ersten Kontakt mit der erwachenden Sexualität – hin und hergerissen zwischen seinem Begehren und den rigiden Moralvorstellungen, in denen er aufwächst. Bis er dann, mit neunzehn Jahren, eine große erste Liebe erlebt, die tragisch endet.

In all den Jahren hat der Vater das eigene Bauunternehmen durch Gleichgültigkeit, halsbrecherische Transaktionen und die Sucht nach Kunstgegenständen und Antiquitäten endgültig ruiniert. Den Scherbenhaufen überlässt er Giuliano. Dessen Bruder Ferrante hat sich den Faschisten angeschlossen und wird von ihnen in undurchsichtige finanzielle Geschäfte verwickelt, die dem Vermögen der Familie den endgültigen Todesstoß geben. Daraufhin entschließt sich Giuliano, die Familie zu verlassen. Damit endet der erste Band der Autobiographie des Giuliano di Sansevero.

Dies ist in Kürze das karge Gerüst der Handlung; den Reiz dieses vielschichtigen Textes aber machen die Fülle an äußeren Ereignissen, inneren Prozessen und Reflexionen aus – alles vor dem dunklen Rauschen des aufkommenden Faschismus. Heutige LeserInnen blicken aus einer doppelten Distanz auf dieses Buch: In Italien erschien der Zyklus vor mehr als fünfzig Jahren, der Autor wiederum blickt auf die Jahre 1903 bis 1925 zurück. Er schildert eine Welt und die in ihr tonangebenden Gesellschaftsschicht, die unwiederbringlich untergegangen sind. Wir lesen den Text eines Autors, der zum Beginn der Niederschrift des ersten Bandes über fünfzig Jahre alt war, was sich durchaus positiv in der von Moshe Kahn großartig ins Deutsche gebrachten Sprache niederschlägt. Sie hat ein ruhiges Gleichmaß, ist präzise und schön, ohne den geschilderten Ereignissen, wie zum Beispiel den Jahren im Kloster, ihre Härte und Grausamkeit zu nehmen oder den gnadenlos genauen Blick auf Giulianos morbides Umfeld abzumildern.

Hervorzuheben ist das Nachwort von Ulrike Vosswinkel, das die Informationen liefert, die diesen Rahmen sprengen würden. Der zweite Band der Autobiographie, Die Jahre zwischen Gut und Böse ist am 6. Oktober erschienen, die restlichen Bände kommen im Jahr 2023. Es ist wunderbar, dass wir dieses außergewöhnliche Werk endlich vollständig lesen können.

Ruth Roebke, Frankfurt a.M.