Zum Buch:
„Ich glaube, der Vorzug dieser Erinnerungen liegt nicht nur darin, daß sie die Realität des Lagerlebens zeigen, sondern vor allem darin, daß sie ohne jegliche Beschönigung ehrlich und brutal die Vielschichtigkeit dieses Lebens und der menschlichen Einstellungen enthüllen und unterstreichen.“
Wieslaw Kielar. Krakau, 1972.
Als Wieslaw Kielar im Mai 1940 mit dem ersten Deportationszug aus dem polnischen Tarnów das noch im Aufbau befindliche Vernichtungslager Auschwitz III erreicht, grassiert dort bereits eine verheerende Typhusepidemie, die tagtäglich Dutzende Menschen dahinrafft. Kielar ist gerademal einundzwanzig Jahre alt, als er wegen seiner Mitgliedschaft in einer militärischen Organisation zu fünf Jahren Haft verurteilt wird. Er erhält die Häftlingsnummer 290. (Nur zum Vergleich: Die letzte Nummer, die einem KZ-Häftling wenige Tage vor der Befreiung des Lagers eintätowiert wurde, lautete 202499.)
Wie alle Geschichten, die von ehemaligen Häftlingen des Vernichtungslager Auschwitz erzählt worden sind, ist auch diese eine Geschichte des tagtäglichen Überlebenskampfes. Und das im wortwörtlichen Sinn. Aber für den jungen Kielar beginnt mit dem Tag seiner Inhaftierung auch eine „Geschichte der ersten Male“, wie es Siegfried Ressel in seinem beeindruckenden Vorwort beschreibt: Der erste Hungertote. Der erste Kältetote. Die erste Selektion. Die erste Vergasung. Das erste Mal Bunkerhaft. Die erste Todesangst.
Dabei hat es Kielar trotz aller Widrigkeiten noch „verhältnismäßig gut getroffen“, da er zunächst einem Schreinerkommando zugeteilt wird und kurz darauf als Leichenträger, Krankenpfleger und Schreiber tätig ist, wodurch er an zusätzliche Lebensmittel gelangt. Doch die Zeiten ändern sich, als er wegen angeblichen Geldschmuggels bestraft wird und kurz darauf schwer an Typhus erkrankt. Nur wenige Monate vor der Befreiung des Konzentrationslagers durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 wird er unversehens auf Transport geschickt – mit Ziel Sachsenhausen.
Die Neuausgabe von Anus Mundi ist mit einem Vorwort des Filmemachers Siegfried Ressel versehen, der über die Entstehungsgeschichte des bereits 1972 erschienen Buches Auskunft gibt und sich dabei auf bisher unbekannte Sachverhalte bezieht, insbesondere was Kielars Werdegang nach 1945 betrifft. Die Liste der Bücher, die aus der Perspektive der Zeitzeugen über Auschwitz verfasst wurden, ist lang. Überhaupt den Entschluss zu fassen, sich erneut seinen Erinnerungen zu stellen und diesen wieder Raum zu geben, zeugt von beeindruckendem Mut. Doch selten wurde das tägliche Grauen derart umfassend, besonnen, detailliert und unverblümt geschildert wie aus der Feder von Wieslaw Kielar.
Axel Vits, Köln