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Autor
Topol, Jáchym

Ein empfindsamer Mensch

Untertitel
Roman. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová
Beschreibung

Jáchym Topol ist ein Meister der Groteske. Sein neuer Roman Ein empfindsamer Mensch macht das einmal mehr deutlich. Wild, bunt, anarchisch, fantastisch und herzzerreißend traurig geht es hier in einer Geschichte zu, die kaum kohärent zusammenzufassen ist. 2017 erhielt er für diesen großartigen Roman den tschechischen Magnesia Literaturpreis.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2019
Format
Gebunden
Seiten
494 Seiten
ISBN/EAN
978-3-518-42864-1
Preis
25,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Jáchym Topol, 1962 in Prag geboren und Sohn des Dramatikers Josef Topol, war nicht nur der Star des literarischen und musikalischen Underground vor 1989 sondern ist auch heute noch der bekannteste tschechische Autor seiner Generation. Als Sechzehnjähriger unterzeichnete er die Charta 77, 1985 begründete er das Underground-Magazin Revolver Revue, seine Zeit als Wehrpflichtiger verbrachte er mit anderen Intellektuellen in der Irrenanstalt, er arbeitete als Heizer und Lagerarbeiter. In den 90er Jahren studierte er Ethnologie und bereiste zwischen 1989 und 1991 als Journalist für die Wochenzeitung Respekt und Drehbuchautor Osteuropa. 1988 erschien in Samizdat sein erster Gedichtband Ich liebe Dich bis zum Irrsinn, 1992/93 folgten Am Dienstag gibt es Krieg und Ausflug zur Bahnhofshalle. Seinen Durchbruch als Schriftsteller hatter er mit dem Roman Die Schwester; es folgten Engel EXIT, Nachtarbeit, Zirkuszone und Die Teufelswerkstatt. Topol lebt in Prag.

Zum Buch:

Jáchym Topol ist ein Meister der Groteske. Sein neuer Roman Ein empfindsamer Mensch macht das einmal mehr deutlich. Wild, bunt, anarchisch, fantastisch und herzzerreißend traurig geht es hier in einer Geschichte zu, die kaum kohärent zusammenzufassen ist. 2017 erhielt er für diesen großartigen Roman den tschechischen Magnesia Literaturpreis .

Im Mittelpunkt der Erzählung steht eine Schauspielerfamilie. Vater und Mutter trinken viel und gern, der eine Sohn wächst nicht, wird mit Tabletten ruhiggestellt, wirkt aber in seinem Verhalten manchmal erstaunlich reif. Der andere Sohn, aus dessen Perspektive ein Teil der Geschichte erzählt wird, spricht nicht. Aus England, wo sie auf Shakespeare-Festivals auftreten wollte, wird die Familie vertrieben, und so begibt sie sich auf eine wilde Fahrt in die Heimat. Irgendwie gelingt es immer, etwas zu Essen für die Kinder und Schnaps für die Eltern zu besorgen, und sei es mit gestohlenem Geld. Aber jedes Geld kommt sofort wieder abhanden, jeder Moment, der zumindest entfernt an Familienidylle erinnert, wird sofort durch unerwartete oft tragische Ereignisse gebrochen.

Eine neue Wendung nimmt die Reise, als die Familie auf den russifizierten Bruder des Vaters trifft, der sich mit ebenso rabiaten Methoden in die Belange der Familie einmischt wie seine politischen Ansichten zur Stellung Russlands in der Welt sind. Mit ihm fliegt die Familie ins ukrainische Kriegsgebiet und reist von dort mit einem gestohlenen Wagen weiter in Richtung der tschechischen Heimat – der Besitzer des Wagens ist im Kofferraum und kein Geringerer als Gérard Depardieu. Als ihnen die Mutter auch noch abhandenkommt, machen sich Vater und Söhne auf die Suche, werden aber immer wieder aufgehalten und geraten an seltsame, skurrile Typen, die sie nur noch weiter von ihrem Weg abbringen.

Neben der Odyssee der Familie steht ein kleiner Ort am modrigen Ufer der Sazava im Zentrum der Geschichte. Direkt am Ufer auf einem vergammelten Campingplatz wächst Vendula auf. Ihr Vater hatte einst die Mutter in einem Boot auf dem schnellfließenden Fluss ausgesetzt, nachdem er ihre Affäre entdeckte. Geschäftliche Beziehungen unterhält er mit dem Baschta-Clan, der auf einem Schrottplatz in der Nähe herrscht und durch familiäre Bande eng an das örtliche Bordell gebunden ist, in dem Vendula inzwischen arbeitet. Allen diesen Figuren begegnet der Schauspieler-Vater mit seinen zwei Söhnen. Er will die Kinder bei seiner Schwester Moni unterbringen, die das Bordell leitet. Rührend sind die Erzählungen über die Solidarität und Freundlichkeit der Prostituierten, die aber ebenfalls immer wieder durch Schicksalsschläge heimgesucht werden.

Gewalt, Suff und Verwahrlosung sind allgegenwärtig, aber keinem der Protagonisten kann wirklich so viel Überblick und Macht zugesprochen werden, dass er die Verantwortung dafür trüge. Unglück und kurzes Glück scheinen von außen auf die Leute einzubrechen, und was bleibt ihnen da anderes übrig als sich aufzurappeln, Selbstgebrannten zu trinken und dabei zu schwadronieren? Vor diesem Hintergrund erstaunt es kaum, dass der Vater der Jungen, obwohl er sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich ein Buch zu schreiben, keinen Buchstaben zu Papier bringt.

Topol beweist einmal mehr seine Fähigkeit, den Leuten aus der Provinz, aus den Schimmelkneipen, unter den Brücken aufs Maul zu schauen. So entfaltet sich in dem Roman auch ein politisches Stimmungsbild der Tschechischen Republik. Dabei werden Nationalismus, Feindseligkeit und Stereotype aber eindeutig überlagert vom zähen, mit viel Galgenhumor gesegneten Švejk‘schen Charakter der meisten Figuren. Vom Schicksal gebeutelt stehen sie wieder auf und gehen auf ein Bier. Aus dieser Haltung schöpft auch die apokalyptische Komik des Romans.

Die interessanteste Figur bleibt bei all den skurrilen und kaputten Typen der stumme Sohn. Seine Traurigkeit und Verwirrtheit ob der Machtlosigkeit des Vaters, der mühsam den Anschein aufrechterhalten will, die Kontrolle zu haben, kennen keine Grenzen. Trotzdem handelt er entschieden, wenn es darauf ankommt, kümmert sich rührend um den kleinen Bruder und entdeckt seine erwachende Sexualität. Die Figur des Jungen ist es, die die immer wieder zu zerfallen drohende Geschichte zusammenhält. Zwar ist er auf tragische Weise dem wirren Treiben der Erwachsenen ausgeliefert, bewahrt sich aber eine erstaunliche innere Unabhängigkeit. Die ist es auch, die einem bei all der Trostlosigkeit nicht die Hoffnung verlieren lässt.

Alena Heinritz, Graz