Zum Buch:
Hochsommer in Seoul – es ist brütend heiß und feucht, etwas Abkühlung gibt es nur kurz vor Sonnenaufgang. Gyeongha, eine der beiden Protagonistinnen des neuen Romans der Literaturnobelpreisträgerin Han Kang, ist während ihrer Recherchen zu einem Buch über das 1980 verübte Gwangju-Massaker in eine Krise geraten, hat den Kontakt zu allen ihr nahestehenden Menschen abgebrochen und sich in ein kleines Appartement zurückgezogen. Sie ist verstört, krank, von wiederkehrenden Alpträumen heimgesucht und verlässt kaum die Wohnung. Nur sehr langsam kehrt sie wieder ins „normale“ Leben zurück. Ende Dezember erhält sie eine Mail von ihrer Freundin Inseon, die sie bittet, auf schnellstem Weg zu ihr ins Krankenhaus in Seoul zu kommen. Inseon hat früher Dokumentarfilme mit Interviews von Frauen gedreht, die durch Soldaten oder Polizeikräfte in Vietnam, der Manschurei, aber auch in Korea sexuelle Gewalt erlebt hatten. Seit einigen Jahren lebt sie allein in einem Haus im Wald auf der Insel Jeju und schreinert Möbel. Bei einem Unfall hat sie sich drei Finger abgetrennt und liegt seitdem im Krankenhaus. Sie bittet Gyeongha, auf die Insel zu fliegen und in ihrem Haus ihren kleinen Vogel zu retten, der ohne Hilfe sterben würde.
Als Gyeongha auf der Insel ankommt, hat es zu schneien begonnen. Bisher war sie nur ein einziges Mal in Inseons Haus und hofft, dass sie sich an den Weg dorthin erinnern wird. Der Schneefall wird zu einem heftigen Schneesturm und der Weg in der zunehmenden Dunkelheit durch schneidende Kälte, Wind und Schneewehen zu einem mühsamen Kampf. Völlig erschöpft findet sie das Haus nur, weil das Licht bei Inseons Abtransport nicht gelöscht worden war und durch die weit geöffnete Tür ihrer Werkstatt fällt.
So wie die Welt außen hinter der weißen Wand zu verschwinden scheint, verschwimmen im Laufe der weiteren Lektüre die Zeitebenen und die Personen zwischen Traum und Realität. Eine kontinuierliche Handlung lässt sich kaum mehr erzählen, stattdessen tritt in einem Bilderstrom das tieferliegende, eigentliche Thema des Buches hervor.
In einer wunderbar poetischen Sprache, in klaren Bildern und ruhigen Schilderungen verwebt Han Kang traumartige Szenen: Plötzlich ist der kleine Vogel, der tot in seinem Käfig lag, wieder lebendig, Inseon ist, völlig unversehrt, anwesend und Gyeongha findet eine Kiste mit Fotos und Dokumenten, die Inseons Mutter über ihre Familie zusammengetragen hat. Wenn man sich dem Fluss des Textes hingibt, kommt man einer anderen Art von Wahrheit näher als bei der Aufzählung einzelner Ereignisse: dass die südkoreanische Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg unter wechselnden Militärdiktaturen eine nicht abreißende Kette von Aufständen und deren Niederschlagung, Verfolgungen, Massakern und Gräueltaten gewesen ist, die bis vor kurzem nicht umfassend anerkannt und aufgearbeitet werden durfte. Der im Roman stetig und kalt fallende, alles verdeckende Schnee ist nur eines von vielen Bildern, mit denen die Autorin versucht, den Zustand einer tief traumatisierten Gesellschaft begreiflich zu machen. Unmöglicher Abschied ist ein beeindruckendes Buch – eine unbedingte Leseempfehlung!
Ruth Roebke, Frankfurt, a. m.