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Autor
Reinecke, Anne

Leinsee

Untertitel
Roman
Beschreibung

Karl Sund sitzt im Zug, in desolatem Zustand. Zwei Anrufe hatte er zu Hause in Berlin erhalten: einen von einer Klinik in Leinsee, in dem man ihm mitteilte, dass seine Mutter wegen eines Hirntumors gerade einer großen Operation unterzogen würde und einen anderen von der Polizei, die ihn darüber in Kenntnis setzte, dass sein Vater sich soeben das Leben genommen habe.

Nähe und Verlust, Verbundenheit und Beziehung sind die großen Themen, die die Autorin in ihrem Erstlingswerk hier auf besondere Weise belebt. Anne Reinecke hat mit Leinsee einen Roman vorgelegt, der schon jetzt Lust auf ihren nächsten macht und der für mich in diesem Frühjahrsprogramm eine Entdeckung war.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Diogenes Verlag, 2018
Format
Gebunden
Seiten
368 Seiten
ISBN/EAN
9783257070149
Preis
24,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Anne Reinecke, geboren 1978, hat Kunstgeschichte und Neuere deutsche Literatur studiert und für verschiedene Theater-, Film- und Ausstellungsprojekte sowie als Stadtführerin gearbeitet. >Leinsee< ist ihr erster Roman. Für das Manuskript wurde sie mit einem Stipendium der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Berlin.

Zum Buch:

Karl Sund sitzt im Zug, in desolatem Zustand. Zwei Anrufe hatte er zu Hause in Berlin erhalten: einen von einer Klinik in Leinsee, in dem man ihm mitteilte, dass seine Mutter wegen eines Hirntumors gerade einer großen Operation unterzogen würde, die sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überleben dürfte, und einen anderen von der Polizei, die ihn darüber in Kenntnis setzte, dass sein Vater sich soeben das Leben genommen habe.

Nach und nach erfährt man aus dem Blick eines auktorialen Erzählers, dass August und Ada Stiegenhauer das glamouröse und allseits bekannte Künstlerpaar der letzten Jahrzehnte waren, und auch, dass diese Eltern ihrem Sohn Karl im Alter von 10 Jahren nicht nur einen neuen Nachnamen, sondern auch ein neues Zuhause in einem Internat fern von Leinsee gegeben hatten. All das selbstverständlich nur zu seinem Besten, um ihm ein Aufwachsen fern ihrer eigenen Popularität zu ermöglichen. Dass Karl das ganz anders sieht und die Rückkehr in sein Elternhaus ihm auch deswegen schwer fällt, weil er seit Jahren keinen Kontakt zu seinen Eltern hatte, wird schnell deutlich. Auch er ist Künstler geworden – wenn auch einer, der seine eigenen Vakuum-Arbeiten noch immer eher als Spleen oder Zeitvertreib empfindet –, steht in Berlin kurz vor seiner ersten Einzelausstellung, als ihn die Geschehnisse in Leinsee zu seinen Wurzeln zurück zwingen. Dort kommt nicht nur für die Öffentlichkeit seine Beziehung zu „den Stiegenhauers“ zutage, sondern vor allem sein zutiefst zwiespältiges Verhältnis zu seinen Eltern. An das Gesicht seines Vaters kann oder will er sich partout nicht erinnern, der Besuch im Krankenhaus bei der Mutter, die wie durch ein Wunder die schwere Operation überlebt, verstört Karl zutiefst.

Die kommenden Tage und Wochen verschwimmen für Karl in einer einsamen Selbstfindung, dazu kommen die Beerdigung, die Fragen nach dem Erbe, die Anrufe seiner Freundin Mara, die ihn anfleht, an der Vernissage seiner ersten eigenen Ausstellung teilzunehmen, aber nicht mehr wirklich zu ihm durchdringt…

Ein bisschen ist es so, als nähme er das Haus seiner Kindheit, aus dem er sich damals verstoßen fühlte, wieder in Besitz, jetzt, wo sein Vater tot und seine Mutter im Krankenhaus ist. In dieser selbst gewählten Verlorenheit, knüpft er eine leise und sehr besondere Freundschaft zu dem achtjährigen Mädchen Tanja, das eines Tages auf dem Kirschbaum im Garten seiner Eltern sitzt. Als gäbe es vom ersten Moment an eine unausgesprochene Verbindung zwischen dem erwachsenen Mann und dem Kind, kommunizieren die beiden miteinander, ob über neu angeordnete Trittsteine im Garten auf dem Weg zum See oder den mit Fundstücken geschmückten Kirschbaum. Karl fühlt sich glücklich und inspiriert, wenn er Tanja in der Nähe weiß oder ihren Blick auf sich spürt, geht in Leinsee auf Entdeckungstouren, lässt sich treiben.

Ada Stiegenhauer überlebt nicht nur die große Operation, sondern erlangt nach einigen Tagen sogar das Bewusstsein wieder, ein zeitloses, wie sich schnell herausstellen wird, eines, in dem sie Karl für ihren Ehemann August hält. Jede Aufregung solle man ihr ersparen, hatte der Arzt noch gewarnt, so dass Karl fast nicht anders kann, als diese Verwechslung hinzunehmen. Er badet geradezu in Adas Liebe, auch wenn sie ihn August und nicht Karl nennt, in jener Liebe, die er als ihr Sohn so nie bekommen hatte. Im Verlauf des Romans wird er Ada aus der Klinik in das Haus am See holen, mit ihr arbeiten, so wie früher nur Ada und August miteinander in ihrem Atelier gearbeitet haben. Ein Fest wird vorbereitet und gefeiert, ein märchenhaftes Fest mit Tanja, Ada, Adas Krankenschwester und Kurt. Aus der Zeit gefallen und jenseits gängiger Konventionen, leben die Protagonisten dieses Romans ihre eigene Geschichte.

Nähe und Verlust, Verbundenheit und Beziehung sind die großen Themen, die die Autorin in ihrem Erstlingswerk hier auf besondere Weise belebt. Es gelingt ihr, Karls eigentlich tragische innere Haltlosigkeit mit einem ungemein klaren Ton und feinem Humor zu beschreiben. Der Blick in die Welt der Kunst ist entwaffnend ironisch, die Beziehung der Figuren untereinander nur auf den ersten Blick befremdlich, dann aber authentisch und glaubhaft. Anne Reinecke hat mit Leinsee einen Roman vorgelegt, der schon jetzt Lust auf ihren nächsten macht und der für mich in diesem Frühjahrsprogramm eine Entdeckung war.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt