Zum Buch:
Seit der Flüchtlingskrise von 2015 prangt am Schauspielhaus Frankfurt ein Plakat für Menschlichkeit: „Jeder Mensch verdient nicht nur zu überleben, sondern zu leben.“ Diesen Kampf ums Überleben und Leben zeigt de Jong anhand einer Handvoll Kinder, aus deren Perspektiven abwechselnd erzählt wird und deren kindlicher Horizont den Erzählton bestimmt. Er ist manchmal naiv, die Sätze wirken gelegentlich unbeholfen, aber sie spiegeln zugleich die unglaubliche Härte und Klarheit, die sich Kinder mit einem solchen Schicksal aneignen müssen.
Da ist Hans aus Deutschland, dessen Eltern im Widerstand aktiv waren und der alleine auf die Flucht geschickt wird, da sind Marie und Luba, die beiden Schwestern aus den Niederlanden, Berthe, Rainer und Pierre. Alle sind sie ohne Eltern unterwegs und werden von Lies und Aart in ihrem ausgebauten Kastenwagen mitgenommen und gerettet.
Derzeitiger Aufenthaltsort: ein Feld am Rand der Stadt Tanger, die von manchen Plätzen aus den Blick auf die Meerenge von Gibraltar freigibt. Es ist das Feld in der Fremde, das die Kinder mit Lies und Aart in täglicher Sisyphusarbeit erfolglos beackern. Das Gemüse gedeiht nicht, die Kinder sind verlaust, der Konsul ist für nichts zuständig: „Wer kann schon beweisen, dass er Flüchtling ist.“ Als die Polizei einen Niederländer wegen Unzucht mit Minderjährigen sucht, kommt ihr Aart gerade gelegen. Er wird unschuldig ins Gefängnis gesteckt. Die ältesten Jungs der zusammengewürfelten Flüchtlingsfamilie kümmern sich nun um das tägliche Brot. Rainer transportiert Mist, Hans spült Gläser in einer Bar und gibt einem jungen Araber Deutschunterricht. Tanger ist voller deutscher Spione, und die Geschäftemacherei der Schlepper gedeiht: „Die aufgescheuchten Menschen, die ihre Zukunft retten wollten, prallten auf eine Mauer von diplomatischer Heuchelei und Scheinheiligkeit, ruchloser Geschäftemacherei, Dummheit, Vorurteilen, Gleichgültigkeit, sie scheiterten an einem Wust von Einreisebeschränkungen, beglaubigten Erklärungen, Visa, Schiffsfahrkarten, Ausreisegenehmigungen.“
Dola de Jong, die nach ihrer Flucht aus den Niederlanden in die USA nicht nur als Autorin, sondern auch als Übersetzerin u.a. des Tagesbuchs der Anne Frank tätig war, erinnert uns mitten in der Flüchtlingskrise des 21. Jahrhunderts an jene des 20. Als ihr Buch in den USA erschien, lobte die New York Times ihre „beispiellose Anklage gegen die moderne Kriegsführung“ – das war allerdings schon 1945.
Ines Lauffer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt