Zum Buch:
Februar 1945 in Berlin: die westlichen Alliierten überziehen die Innenstadt täglich mit Bombenangriffen, viele Häuser sind zerstört, die Bewohner drängen sich in den Luftschutzkellern und Bunkern. Die russische Armee steht an der Oder. In dieser Lage ereilt die Familie Stein das Glück, über entfernte Kontakte in dem nördlichen Vorortbezirk „Föhren“ (real Frohnau) eine Bleibe in der Villa eines Spediteurs angeboten zu bekommen. Der Besitzer hat sich aus dem Staube gemacht und seine Haushälterin Flitta mit einem alten Hund als Schutz seines Besitztums zurück gelassen. Flitta ist froh darüber, bei dem, was kommen wird, nicht alleine zu sein. So richtet sich die kleine Familie – Herr Stein, Jurist und Autor, seine Frau Friederike und ihre erwachsene Tochter Maximiliane – so weit es geht häuslich ein. Das Glück, dem täglichen Bombenterror erst einmal entgangen zu sein, wird durch einen Blick in den vollen Vorratskeller der Reinhartschen Villa noch gesteigert, von dem Flitta manchmal etwas abgibt und Herr Stein sich nach anfänglichen Skrupeln heimlich selbst bedient.
Chronik einer Berliner Familie lautet der Untertitel des, laut Verlag, autobiographisch geprägten Romans, der den Ereignissen der Zeit vom Februar bis in den Oktober 1945 folgt. Chronist und Ich-Erzähler ist Herr Stein. Eindrücklich beschreibt er eine Zeit, in der sich niemand mehr Illusionen über den kommenden Untergang macht, niemand weiß, was folgen wird und die Welt sich in einem von keinerlei staatlicher Struktur geordneten Zustand befindet. Eine Zeit, die geprägt ist von Hunger, Angst und Unsicherheit, aber auch von Überlebenswillen. Als die russische Armee in Föhren einmarschiert, geschieht das Gleiche wie überall in Berlin: es kommt zu Plünderungen, Raub, Verhaftungen und Vergewaltigungen. Aber neben der täglichen Angst kommt auch Erleichterung darüber auf, dass der Krieg ein Ende hat, und Hoffnungen und Sehnsüchte auf gesellschaftlichen wie persönlichen Neuanfang brechen sich bahn.
Gleich, ob man davon ausgeht, dass der Erzähler nicht nur von den Lebensumständen und Zeitgenossen, sondern auch von seiner Person ein äußerst lebendiges und realistisches Portrait zeichnet oder ob er, wie es das Nachwort genauso wie die Verlagsmitteilungen nahelegen, eng mit dem Autor verwoben ist: hier stellt sich ein Mensch dar, der sich zu den – im Stillen – auf der richtigen Seiten stehenden im Lande zählt. Dies berechtigt ihn seiner Meinung nach zu einer herausgehobenen Position, nach der er seine Umwelt beurteilt. Von jedem Zweifel unberührt und sich der eigenen moralischen Überlegenheit sicher, wird das eigene – unter diesen Umständen relativ gute – Leben mit Zähnen und Klauen verteidigt: Herr Stein ertränkt ohne Flittas Wissen den alten Hund, weil dieser in den kargen Zeiten zu gut gefüttert wird. In einer unhinterfragten „Das-Boot-ist-Voll“ – Haltung werden Flüchtlinge, die Unterschlupf suchen, möglichst bald wieder hinauskomplimentiert; ein Auswahlkriterium ist der „Wert“, der dem jeweiligen Menschen zugeschrieben wird. Ob man Mitgefühl dafür aufbringt, wie oft eine Frau „drangenommen“ wurde, richtet sich ebenfalls nach ihrer moralischen Einschätzung durch den Erzähler und wäre schwer auszuhalten, wenn der Autor ihm nicht zuweilen einen Gesprächspartner, Herrn Schwebel, an die Seite stellen würde, der deutlich andere Positionen vertritt und sich auch nicht scheut, Steins Haltung als faschistisch zu bezeichnen – was diesen jedoch nicht erschüttert. Bereits beim ersten Erscheinen des Buches 1955 kritisierte eine Besprechung der ZEIT, dass dem Autor an kritischer Distanz fehle – aber genau dies macht Frühling 45 heute in doppelter Weise zu einer bemerkenswerten Lektüre: als relativ ungefilterte Chronik der Ereignisse und als Psychogramm einer „guten deutschen Familie“, deren Mitglieder glauben, über den Dingen und vielen Menschen zu stehen, und doch tief dem allgemeinen Gedanken- und Meinungsgut verhaftet sind.
Ruth Roebke, Bochum