Zum Buch:
Die französische Theoriebildung des 20. Jahrhunderts, also vor allem die Beiträge der Denker*innen, die dem Übergang von der Phänomenologie über den Strukturalismus hin zum Poststrukturalismus zugeordnet werden können, eint ein erkenntnistheoretisches und ethisches Interesse an dem Status des Anderen. So reflektiert Sartre darüber, inwiefern der Andere eine notwendige Voraussetzung der Freiheit ist, Foucault thematisiert die mit der Herstellung von Normalität einhergehenden Ausschlüsse und Levinas entwickelt eine Ethik der Alterität, in der die Beziehung zum Anderen nicht der Maßstab, sondern der Beginn ethischen Handelns ist. Auf ihre jeweils eigene Art und Weise sind diese Autoren so zu Referenzpunkten für eine Kritik des (nicht nur) französischen Kolonialismus geworden. Doch was wäre, wenn ihre Theorien neue Probleme aufwerfen, die einem zeitgemäßen, die Fortdauer und Veränderung kolonialer Machtverhältnisse kritisierendem Denken im Wege stehen?
In Welches Außen des Denkens? argumentiert Michaela Ott, dass mit dem philosophischen und kulturwissenschaftlichen Interesse an dem Anderen die anderskulturellen Personen in Frankreich und auf den französischen Territorien immer weiter ausgeblendet und ihre Stimmen so systematisch aus dem Diskurs verdrängt wurden. Sie rekonstruiert plausibel, dass an die Stelle einer Sensibilisierung für Ausschlüsse Bezüge auf ein immer abstrakter gedachtes Anderes treten, deren Folge eher eine Verdeckung als eine Offenlegung kolonialer Herrschaft ist.
In ihren Lektüren vor allem von Sartre, Foucault, Levinas, Deleuze und Guattari problematisiert Ott das bei ihnen auffindbare Denken des Außen, also der Versuche, der bzw. dem Anderen einen Vorrang im Denken einzuräumen. Dabei beruft sie sich auf ein breites Repertoire von bekannten und weniger bekannten Autor*innen postkolonialer Theorie, die das Denken der Alterität von Anfang an einer Kritik ausgesetzt haben und dies auch weiterhin tun. Damit gelingt ihr eine Einführung in die problematisierten Ansätze ebenso wie die Vorstellung möglicher Vorgehensweisen für eine andere, kontextsensiblere Thematisierung (post-) kolonialer Konstellationen. Diese findet sie beispielsweise bei Achille Mbembe, Leonhard Praeg, Rey Chow oder Gayatri Chakravorty Spivak.
Ott argumentiert, ganz dem vorgestellten Problemhorizont entsprechend, durchweg theoretisch versiert, aber mit hoher Aufmerksamkeit für den jeweiligen Kontext herrschaftskritischen Denkens. Sie reorientiert das postkoloniale Denken unter anderem durch den Vorschlag, einer Fetischisierung der Alterität durch neue Bezugnahmen auf das Humane und die Repräsentation entgegenzuwirken. Im Sinne der einschlägigen Diskussion der problematischen Aspekte dieser Konzepte ersetzt sie diese jedoch nicht bedingungslos. Vielmehr zeigt sie einleuchtend, dass eine vorschnelle Verabschiedung mancher Mittel politischen Handelns gerade denjenigen die Stimme nimmt, für die das Denken des Außen einzutreten meint.
Tobias Heinze, Karl Marx Buchhandlung, Frankfurt