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Erinnerung eines Mädchens

Autor
Ernaux, Annie

Erinnerung eines Mädchens

Untertitel
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Beschreibung

Nobelpreis für Literatur 2022

Als „Ethnologin ihrer selbst“ geht Annie Ernaux in ihrem neuen Roman zurück in das Jahr 1958, in dem sie sich als knapp 18-jährige zum ersten Mal von ihrem moralisch beengenden Elternhaus entfernt, um in einem Feriencamp als Betreuerin zu arbeiten. Die erhoffte Romanze mit einem älteren Betreuer gerät zu einer fast brutalen ersten sexuellen Erfahrung, die Ernaux im Rückblick als prägend für ihr ganzes Leben entschlüsselt.

Die Frage, wie wir zu der Person wurden, die wir heute sind, fasziniert vermutlich nicht nur Annie Ernaux. Mit dieser Frage bleibt man auch zurück, wenn man die letzte der 164 Seiten ihres Buchs gelesen hat, und wird sich im besten Fall auf die Suche nach der eigenen Vergangenheit begeben.
(asuführliche Besprechung unten)

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2018
Seiten
163
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-518-42792-7
Preis
20,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden.

Zum Buch:

Als „Ethnologin ihrer selbst“ geht Annie Ernaux in ihrem neuen Roman zurück in das Jahr 1958, in dem sie sich als knapp 18-jährige zum ersten Mal von ihrem moralisch beengenden Elternhaus entfernt, um in einem Feriencamp als Betreuerin zu arbeiten. Die erhoffte Romanze mit einem älteren Betreuer gerät zu einer fast brutalen ersten sexuellen Erfahrung, die Ernaux im Rückblick als prägend für ihr ganzes Leben entschlüsselt.

Behutsam, aber in vertraut distanziertem Ton, überführt die Autorin einen inneren Zustand der Bilder und Gefühle in einen Zustand der Wörter. Sie erinnert sich an die Demütigung durch ihre Altersgenoss*innen, an die tief empfundene Scham und ringt mit der Frage, die sich vermutlich fast alle Mädchen in dieser Zeit stellten, nämlich der, wie man sich „richtig“ verhält. Erst einige Jahre später wird sie in ihrem Philosophiestudium bei Simone de Beauvoir die Antwort finden, dass sie sich auch als Frau als freies Subjekt bewegen darf.

Die Ehrlichkeit, mit der Annie Ernaux ihren Selbsthass, ihre beginnende Essstörung und den Versuch der Vertuschung ihrer kleinbürgerlichen Herkunft beschreibt, hat eine gleichermaßen beklemmende wie befreiende Wirkung auf den Leser. Oder in diesem Fall vielleicht nur auf die Leserin? Auch 20 oder 30 Jahre später haben Frauen noch immer mit denselben Zweifeln angesichts der Frage gerungen, was wohl ein angemessenes, weibliches Verhalten sei.

Ernaux beschreibt in ihrer Rückschau, wie sie als junge Frau den Weg der Verwandlung einschlug. Sie wollte ungeschehen machen, was ihr so viel Schmerz bereitet hatte, versuchte, ihren Körper in den einer Anderen zu verwandeln, in den Körper einer Frau, die begehrt statt abgewiesen wird. Anstatt sich von der männlichen Dominanz zu befreien, hatte sie ihr ganzes Sein darauf ausgerichtet, „ihn“ irgendwann doch für sich gewinnen zu können.

Auf den einschneidenden Sommer im Feriencamp folgt der Beginn einer Ausbildung an einer Fachschule für Lehrerinnen. Diese Zeit in einer autarken Gemeinschaft mit durchorganisiertem Alltag, der für die junge Frau „weich wie ein Kissen“ war, würde die Autorin später in ihrer Auseinandersetzung mit politischen Fragen das sowjetische System verstehen lassen und noch später die Sehnsucht der Russen nach der guten alten Zeit. Erst später wird sich Annie Ernaux das vollkommene Fehlen eines pädagogischen Talents eingestehen und einen anderen Weg einschlagen, der sie aus der zwar strengen, aber doch behüteten Gemeinschaft herausführen wird.

„…im Prinzip gibt es nur zwei Arten von Literatur, die nacherzählende und die suchende…“ schreibt Ernaux. In Erinnerungen eines Mädchens vereint die Autorin beides miteinander. Indem sie nacherzählt und sich, ähnlich wie in ihrem letzten Roman Die Jahre, an Erinnerungsstücken, Briefen und Fotos entlang hangelt, versucht sie sich der jungen Frau – die sie jetzt nicht mehr ist – zu nähern. Die Frage, wie wir zu der Person wurden, die wir heute sind, fasziniert vermutlich nicht nur Annie Ernaux. Mit dieser Frage bleibt man auch zurück, wenn man die letzte der 164 Seiten ihres Buchs gelesen hat, und wird sich im besten Fall auf die Suche nach der eigenen Vergangenheit begeben.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt