Zum Buch:
Gleich zu Anfang muss ich sagen, dass ich George Perec sowie eine Handvoll der Titel seines ausgesprochen umfangreichen Werkes allein dem Namen nach kannte – gelesen hatte ich bisher noch gar nichts. Das änderte sich jedoch mit einem Schlag, als im vergangenen Jahr sein Buch in einer Neuauflage beim Diaphanes Verlag erschien. Ein 850-Seiten-Wälzer, durch den ich mich langsam, aber von stetiger Lesebegeisterung geradezu beflügelt durcharbeitete.
Heute bin ich großer Fan dieses Ausnahmetalents der Fabulierkunst, diesem Meister der Aneinanderreihung von komplett unnützen und gerade deshalb höchst interessanten Wissen, das er mit solch einer unverstellten und damit unvergleichlichen Leidenschaft zu Papier gebracht hat; diesem Kultautor, der es versteht, sich dem Leser aufzudrängen, sich ihm regelrecht an den Hals zu werfen, indem er, bildlich gesprochen, einfach nur den Mund aufmacht und dann nicht mehr aufhört zu erzählen, zu erzählen, zu erzählen. Was so einfach, ja banal klingen mag, ist im Gegenteil von einer ungemein tiefen Leidenschaft zur Literatur geprägt, die in jedem einzelnen Satz zu spüren, ja richtiggehend zu greifen ist. Ein Sog entsteht, dem man – ist man ihm einmal verfallen – nicht mehr widerstehen kann.
Das Leben. Gebrauchsanweisung gilt gemeinhin als Perecs Meisterwerk. Doch könnte man das gleiche von jedem seiner Bücher behaupten – auch wenn das natürlich etwas übertrieben klingen mag. In 99 Kapiteln werden die verschiedenen Räume eines großen Mehrfamilienhauses in Paris sowie die Menschen, die diese Räume bewohnen bzw. bewohnt haben, beschrieben. Mehr ist es eigentlich nicht, doch zaubert Perec daraus einen wahren Kosmos. Im Zentrum dieser ununterbrochenen Aneinanderreihung von Namen, seltsamen Verstrickungen, Lebensläufen, Gegenständen, Geschehnissen, Listen, Absonderlichkeiten, Mutmaßungen, Superlativen, Abschweifungen, Kuriositäten, Übertreibungen, Halbwahrheiten und offenen Lügen steht der reiche Hausbewohner Bartlebooth, ein Engländer, dessen Aquarelle (immer nur Hafenansichten auf der ganzen Welt) in eben diesem Haus von einem der Bewohner zu komplizierten Puzzeln verarbeitet und dann von einem anderen Bewohner mittels einer noch komplizierteren Klebelösung erneut zu einem ganzen Bild zusammengefügt werden. Das klingt etwas daneben. Ist es auch. Aber die Sache hat einen tieferen Sinn, den ich hier ganz sicher nicht verraten werde. Nur soviel sei gesagt: Das Leben. Eine Gebrauchsanweisung ist „ein Buch, das man jedes Jahr mindestens einmal lesen sollte.“ Das ist nicht von mir, das stammt von Harry Rowohlt. Oder, um es mit Italo Calvino zu sagen: „Man schlage das Buch an beliebiger Stelle auf und lese, lese, lese.“
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln